Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
befürchte ich, dass ich zu spät kommen werde. Denn diese verdammte Pforte dahinten macht ganz den Eindruck, als würde sie nicht mehr lange halten.«
Abraham trat müde neben ihn. »Flucht wird mir wohl kaum etwas nutzen«, brummte er.
»Nein, Flucht nicht. Aber Sie könnten mir vielleicht etwas Zeit verschaffen.« Lukas kam eine Idee. Aufgebracht kramte er sein Smartphone hervor, schaltete es an und reichte es dem Geomanten. »Ich hoffe, Ihre Antipathie gegen Technik wirkt sich in Ihrem neuen Körper nicht so dramatisch aus wie früher.«
Abraham umfasste das Handy erstaunt mit beiden Händen. »Nein, wie Ihr seht, erfüllt Euer modernes Fernmeldegerät noch immer seinen Dienst. Nur verstehe ich nicht, wie uns das nutzen kann.«
»Fliegen Sie damit nach oben. Rufen Sie von dort aus Ben und die Devils an. Sie erinnern sich: Die hatten heute ihr Abschlusskonzert in Kelbra. Der Ort liegt ganz in der Nähe. Die Jungs sollen herkommen, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Sie müssen ihr grigorianisches Himmelsstück noch einmal spielen.«
Abrahams Blick huschte über die vielen Leichen in der Höhle, dann nickte er. »Jetzt begreife ich! Verlasst Euch auf mich. Ich werde tun, was in meiner Macht liegt.« Abraham betrachtete das Handy, als handele es sich bei ihm um eine besonders schwer zu bewältigende Zauberformel. Dann drückte er es an seinen kleinen Körper, schlüpfte an Barbarossa vorbei, sammelte eine Lederschnur auf, die neben einem der anderen Toten lag, und band das Smartphone damit an Millepertias Besenstiel fest. »Eine Frage noch, Herr Faust: Wenn Ihr nicht glaubt, dass Eure Botschaft etwas bewirken kann … weshalb nehmt Ihr das Wagnis dann auf Euch?«
»Weil ich es einem kleinen Mädchen geschworen habe. Und weil darin unsere letzte Hoffnung liegt.« Lukas kniete sich bekümmert neben Millepertias Leichnam. »Und meine letzte Hoffnung. Denn selbst wenn ich versage und unsere Welt schon bald den Bach runtergeht – will ich wenigstens Milles Seele befreien. Ich werde dafür sorgen, dass sie ins Paradies einziehen kann. Das bin ich ihr schuldig. Und wenn es das Letzte ist, was ich im Leben tun werde.« Er erhob sich langsam und blickte noch einmal in ihr bleiches Gesicht, dann schloss er seine Jacke.
»Eure Gesinnung ist edel, und Eure Tat ist es auch. Ich wünsche Euch Glück.« Abraham nickte zum Abschied, dann stieg er auf den Besen und schoss trotz seiner Größe mit beeindruckender Geschicklichkeit in Richtung Höhlenausgang.
Auch Lukas klemmte sich den Besen zwischen die Beine, nur dass er auf ihm geradewegs auf das Höllenportal zuflog. Der Sog, der von den deutlich breiter gewordenen Sphärenrissen ausging, zerrte an ihm wie ein Sturmwind. Lukas landete mit einiger Mühe direkt vor der knisternden Wand, berührte den breitesten der glühenden Risse und spürte den Sog. Ein Schmerz fuhr durch seinen Körper, als läge er auf einer Streckbank. Gepeinigt schrie er auf – dann verschluckte der Riss auch ihn.
Finsternis schlug ihm entgegen, und er vernahm ein immer lauter werdendes Wehklagen, das ihn vor Grauen fast ohnmächtig werden ließ. Barbarossas Höhle verblasste, die Szenerie um ihn herum veränderte sich, und …
… er fand sich inmitten eines Alptraumes wieder!
Er stand auf einem verwitterten Plateau, über das rostroter Staub wie getrocknetes Blut wehte. Ein bitterkalter Wind rüttelte an ihm, beißender Schwefelgestank drang in seine Lungen, und von allen Seiten gellten Schreie in Kaskaden und Kakophonien an seine Ohren. Vor ihm lag Dantes Inferno – oder das, was ein Höllen-Brueghel einst auf die Leinwand gebannt hatte. Über den düsterroten Himmel waberte ein Meer aus Flammen. Die weite Ebene unter ihm war übersät von scharfkantigen Felsen und gewaltigen Knochen. Den Horizont füllten ins Riesenhafte verzerrte Dornenranken, die bis weit hinauf zum brandigen Unhimmel reichten. An den riesigen Dornen waren nackte Menschenleiber aufgespießt. Tausende. Zehntausende. Ihre bleichen Körper krümmten sich an dem höllischen Rankenwerk wie Maden, und Lukas glaubte die Qualen der dort Gemarterten spüren zu können, als wären es die seinen. Das Entsetzen, das ihn umfing, war so greifbar, dass es ihn zu zerquetschen schien. Er würgte und versuchte unter Aufbietung all seiner Willenskraft, ruhig und gleichmäßig weiterzuatmen. Es gelang ihm kaum.
Hastig wandte er sich von dem fürchterlichen Anblick ab und trat an die Abbruchkante des Plateaus heran. Unter
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