Schwarze Tränen: Roman (German Edition)
jemand ein Messer in die Brust gerammt. »Die Hölle!«, röchelte sie erstickt. »Ich sehe die Höl…«
Sie erschlaffte.
»Mille? Mille!« Ohne über die Folgen seines Tuns nachzudenken, wischte Lukas ihr den schwarzen Speichel von den Lippen und begann mit Herzmassagen und Mund-zu-Mund-Beatmung.
»Bitte«, sagte Abraham neben ihm traurig. »Das ist …«
»Halten Sie den Mund!«, brüllte er ihn an. Immerzu machte er weiter und überprüfte, ob Millepertia wieder zu atmen begann. Doch sie lag leblos vor ihm und rührte sich nicht. Irgendwann wurden ihm die Arme lahm, und seine Lunge brannte vor Anstrengung.
Er hatte sie verloren.
Lukas hielt ihren Körper weiter in seinen Armen und ließ seinen Tränen freien Lauf. Auch Abrahams Augen waren gerötet.
»Ich habe nicht einmal den Mut gefunden, es ihr zu sagen«, stammelte Lukas. »Nicht einmal das habe ich hinbekommen.«
Abraham schien zu ahnen, wovon er sprach. »Ich bin mir sicher, sie wusste um Eure Gefühle für sie.«
»Nein. Ich hätte es ihr
sagen
müssen.« Mit tränenverschleiertem Blick sah er auf. »Dann ist ihre Seele jetzt wirklich in der Hölle? Ist das sicher?«, fragte er tonlos und sah Abraham flehend an.
Abraham senkte den Blick.
In diesem Moment bewegten sich die wenigen verbliebenen grünen Triebe auf Millepertias Leib. Sie wanderten über ihren erschlafften Körper und wickelten sich um seine Hände. Lukas spürte plötzlich einen sanften Druck auf seinen Gelenken, als drängten winzige Kapillarröhren durch seine Poren. Ihn schwindelte …
… und er lag unvermittelt auf einer taufrischen Waldwiese. Über ihm funkelten die Sterne des Nachthimmels, doch jenseits der Bäume zeichnete sich bereits die Röte der Morgensonne ab. Ihr junges Strahlen mischte sich mit dem Schein der Sterne zu einem unwirklichen Zwielicht, das tausendfach in den Tautropfen glitzerte, die sich perlengleich auf den Gräsern gesammelt hatten. Lukas atmete verwundert die würzige Waldluft ein, erhob sich und sah zu den Bäumen auf.
Der Wald machte einen urtümlichen Eindruck, als habe vor ihm noch keine Menschenseele einen Fuß in ihn gesetzt. Lukas betrachtete seine Arme und Hände, die ihm auf unbestimmbare Weise unwirklich erschienen. Die Tautropfen schwanden, und er entdeckte, dass die Lichtung tatsächlich über und über mit grün-gelbem Hartheu bedeckt war.
Wo war er?
Der Lichtschein zwischen den Bäumen wurde immer greller und verdrängte zunehmend die Nacht. Fast so, als würde unmittelbar über einem Hügel jenseits der nahen Waldgrenze die Morgensonne aufgehen. Das Licht wurde so intensiv, dass er seine Augen abschirmte. Und mit dem Licht ertönte ein Rauschen, das unmöglich vom Wind herrührte, sondern von dem Schlag mächtiger Flügel. Plötzlich schälte sich ein majestätischer Schemen aus dem Licht, und eine geflügelte Lichtgestalt mit andächtig ausgebreiteten Händen und leicht angewinkelten Beinen sank auf die Lichtung herab. Ihre nackten Fußspitzen berührten sanft den Hartheubewuchs, und weiche Locken umschmeichelten das strahlende Antlitz des Wesens. Lukas starrte die Erscheinung an und war mit einem Mal vollkommen eins mit sich. Es gab keine Fragen mehr, keine Schmerzen. Vor ihm stand ein
Engel.
Seine Existenz allein war die Antwort auf alle Fragen. Sie schloss alle Wunden, heilte jeden Schmerz und umspülte ihn wie das Licht der Sonne. Das Sprechen fiel ihm schwer, das Denken ebenso, und der Wunsch, sich in die lockende Wärme und Freude fallen zu lassen, die der Engel ausstrahlte, wuchs mit jedem Atemzug. All seine Ängste schwanden – und doch war da etwas tief in ihm, das sich weigerte, sich von all den überirdischen Empfindungen einlullen zu lassen. Trotz. Stolz. Und Aufbegehren. Nein!
Mille.
Wieder und wieder, wie ein Mantra schlug ihr Name den Takt seines Herzens.
Mille, Mille, Mille. Mille steckt in der Hölle. Ich habe Milles Tochter geschworen, dass ich ihre Mutter rette. Mille braucht meine Hilfe. Mille ist …
tot.
Er schüttelte sich, und der kraftvolle Puls seines Herzschlags kämpfte gegen die Ruhe an, die ihn durchflutete. Was er fühlte, war nicht wahr. Die Glückseligkeit, die von ihm Besitz zu ergreifen trachtete, war Betrug. Es
gab
Fragen. Er
hatte
Ängste. Und er war es leid, ein Spielball irgendwelcher Mächte zu sein.
»Ich ahne, wer du bist«, sprach er beherrscht. »Du bist der Erzengel Gabriel.«
»Meine Kraft ist Gott«, antwortete der Engel mit sanfter, weiblich anmutender Stimme. »Und ich
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