Schwarzer, Alice
schnitten
ihnen die Haare ab.
Schon einige Stunden später zogen 20.000 bis 30.000 Frauen
durch die Straßen Teherans. Sie skandierten: »Wir sind Iranerinnen und lassen
uns nicht länger an die Kette legen!« und »Ohne die Frauenbefreiung ist die
Revolution sinnlos gewesen!« und »Wir haben nicht gegen die alte Diktatur
gekämpft, um uns einer neuen Diktatur zu beugen!«
Die Khomeini-Garden schossen. Allerdings nicht auf die
Frauen, wie in der Presse fälschlicherweise behauptet wurde, sondern in die
Luft und zum Schutz der Frauen, die von einzelnen Männern angegriffen,
geschlagen und an den Haaren gezerrt wurden. Die Antwort: »Wir haben keine
Angst!«
Dieser erste Protest war noch ganz euphorisch: heiter in
der Sicherheit, dass sie, die alten Kampfgefährtinnen, Gehör finden würden.
Am nächsten Morgen, Freitag, Sit-in im
Universitätsgelände. Trotz Regen trägt keine Frau ein Kopftuch. Am Samstag
50.000 Frauen bei der Demonstration. Viele rauchen, auch Nichtraucherinnen.
Protest gegen Ayatollah Khomeinis Ermahnung: Eine iranische Frau raucht nicht
auf der Straße (vertraute Töne in deutschen Ohren...).
Am Montag, dem 12. März, hat der Frauenprotest bereits die
Provinzstädte erreicht, bis hin in den Kurdistan. Und siehe da, dieselben
Männer, deren Differenzen sich in Ermangelung des gemeinsamen Außenfeindes in
den ersten Wochen nach der neuen Machtverteilung rasch gezeigt hatten, sie
alle, vom Mullah (islamischer Priester) bis zum Fedayin (nichtreligiöse
Revolutionäre), waren sich plötzlich einig: »Der Frauenprotest muss aufhören!
Er schadet der islamischen Revolution und nutzt nur der Savak und dem CIA.«
(Auch das vertraute Töne in den Ohren derer, die unbequem und konsequent sind
in den Stunden der Veränderung: egal, ob es sich bei der russischen Revolution
um die Matrosen von Kronstadt oder beim iranischen Umsturz um die Frauen in
Teheran handelt.)
Doch: eine Männergesellschaft, ein Wort. Und die Frauen?
Sie gehorchten. Wieder einmal. Sie, die Kampfgewohnten, waren überzeugt oder
eingeschüchtert. Einige auch verzweifelt. So wie die Schülerin, die sich am
Morgen des 13. März die Pulsadern aufschnitt. Oder die geschiedene Sekretärin,
die auf dem Rückflug neben mir saß und mir über Athen anvertraute: »Ich bin auf
der Flucht. Ich gehe nicht zurück. Ich habe Angst.«
Nur eine verschwindende Minderheit, ein paar Tausend Frauen
vielleicht, begreift die Hoffnungslosigkeit der Lage. Sie lassen sich auch von
der taktischen Abwiegelung der vom heftigen Protest überraschten Ayatollahs
keinen Sand in die Augen streuen: Nicht der Schleier sei Zwang, sondern nur die
»züchtige Kleidung« - was immer das sein mag.
Hunderttausende sind, wie die Französischlehrerin, halb optimistisch,
halb resigniert. Die weite Mehrheit der Perserinnen aber ist tief im
islamischen Glauben verwurzelt und hat volles Vertrauen zu den neuen Herren.
Noch.
Sie werden repräsentiert von der Islamischen Frauenunion,
mit deren Vertreterinnen wir uns einen Vormittag lang unterhielten. In diesem
Kreis gehört den Traditionellen das Wort. Wortführerin ist die
schador-gewandete Azam Taleghani, Tochter des Ayatollah und Heldin des bewaffneten
Widerstandes. Zahrah Hejazi, Tochter Bazargans, die im Gegensatz zu den meisten
Iranerinnen in dieser Runde europäisch gekleidet ist und das bunte Kopftuch
sichtbar improvisiert umgeschlungen hat, ist auffallend zurückhaltend und
ergreift das Wort nur zum Übersetzen.
Fast alle diese Frauen sind übrigens berufstätig, sind
Ärztinnen, Lehrerinnen, Chemikerinnen. Auch das wurde deutlich: Bei der
Frauenfrage teilen sich die Lager im Iran weniger nach Gebildeten und
Analphabeten oder nach Stadt und Land, sondern eher nach westlich Infizierten
und im Orientalischen Verhafteten.
In so vielem haben sie mir imponiert, diese Frauen der
Union, so wie sie vor mir saßen mit ihren würdigen und starken Gesichtern. Sie
glauben an die Verwirklichung einer klassenfreien Gesellschaft im Iran, an das
Ende von Unterdrückung und Ausbeutung. Sie glauben an ihre maßgebliche
gesellschaftliche Beteiligung auch in der Zukunft.
Tahez Labaf, Ärztin und Mutter zweier Kinder, beruft sich
bei ihrer Definition von der Freiheit des Menschen allein dreimal auf
Jean-Paul Sartre. Gleichzeitig aber verteidigt sie ungebrochen das Recht des
Mannes auf Polygamie (zum Teil mit fast rührenden Rechenexempeln, Stil: Wenn
nach einem Krieg weniger Männer... Oder: Kinder müssen dann nicht mehr ins
Waisenhaus.
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