Schwarzer, Alice
Schleier in den Klassenzimmern auftauchen? Während meiner Kindheit und
bis zu meinem Übergang auf das Gymnasium im Jahr 1987 war das Tragen des
islamischen Schleiers in meiner Umgebung eine Randerscheinung. In der
Grundschule trug niemand den Hidschab, nicht unter den Lehrerinnen und erst
recht nicht unter den Schülerinnen.
Jetzt lebe ich seit zwölf Jahren im kanadischen Quebec,
dessen Devise auf allen Nummernschildern der Autos geschrieben steht: »Ich
erinnere mich«. Apropos Erinnerung: Woran sollte sich Frankreich erinnern? Dass
es das Land der Aufklärung war! Dass Millionen von Frauen die Bücher von Simone
de Beauvoir lesen, deren Name untrennbar mit dem von Djamila Boupacha verbunden
ist (Anm. d. Hrsg.: Eine Algerierin, die während des Algerienkriegs von
französischen Soldaten gefoltert wurde und dank des Einsatzes von Beauvoir
freikam).
Deshalb erwarten wir gerade von Ihnen, dass Sie Mut und
Verantwortungsbewusstsein zeigen und das Tragen der Burka verbieten. Und ich
schließe mit einem Zitat von Simone de Beauvoir: »Wir haben das Recht zu
schreien, aber unser Schrei muss auch gehört werden. Er muss bei anderen
Widerhall finden.«
Ich setze meine Hoffnung darauf, dass Sie meinen Schrei
hören. ■ EMMA
2/2010 Übersetzung: Sigrid Vagt
KHALIDA MESSAOUOI-TOUMI / ES GIBT NUR
EINE ZIVILISATION
Am 18. März 1962 wurde die Kolonie
Algerien nach einem langen, blutigen Bürgerkrieg unabhängig. Die französischen
Herren gingen, neue Herren kamen. Die Frauen, auch die, die unter Lebensgefahr
die Freiheit mit erkämpft hatten, waren schnell wieder vergessen. Nach 30
Jahren sozialistischem Einparteiensystem griffen die islamischen
Fundamentalisten nach der Macht. Generäle und Volk leisteten Widerstand - allen
voran die Mathematiklehrerin Khalida Messaoudi, die mit ihrer Unerschrockenheit
bald zur »Stimme Algeriens« wurde.
Über 100.000 Kinder, Frauen und Männer
wurden in den 1990er-Jahren von den selbst ernannten »Gotteskriegern« hingeschlachtet.
Die Mörder sind meist sogenannte »Afghanen«, Fremde oder Algerier, die als
Freischärler im Krieg gegen die Russen in Afghanistan das Töten gelernt hatten.
Ausgebildet werden sie vom Iran, finanziert von Saudi-Arabien. Allein in
Deutschland leben 20.000 deklarierte algerische Islamisten als politische Asylanten
(weil sie in ihrer Heimat verfolgt werden). Darunter sind Mitglieder der verbotenen
FIS (Islamische Heilsfront) ebenso wie Männer aus dem bewaffneten Kampf, die
oft Hunderte von Morden auf dem Gewissen haben. Jahrelang hatte der algerische
Staat vergeblich um Auskunft über den Aufenthalt der gesuchten Verbrecher
gebeten. Deutschland verweigerte sie. Erst nach dem 11. September 2001 wurde
der deutsche Staat gesprächig.
Khalida Messaoudi selbst war Opfer
einer »Fatwa«, eines offiziellen Todesurteils, das die Menschenrechtlerin zum
Freiwild erklärte. Acht Jahre lang war sie gezwungen, im Untergrund zu leben
und Nacht für Nacht in einem anderen Bett zu schlafen. Doch noch nicht einmal
davon ließ sie sich einschüchtern. Die junge Frau wurde zum Symbol des
Widerstandes. Seit 2002 ist Khalida Messaoudi, die wieder ihren Geburtsnamen
Toumi angenommen hat, Kulturministerin in dem linksliberalen Kabinett von
Präsident Bouteflika. Den nachfolgenden Vortrag hielt sie 2002 in der Akademie
Tutzingen.
Die GIA (Bewaffnete Islamische Gruppen) und der GSPC (Salafistengruppe
für Predigt und Kampf) massakrieren seit zehn Jahren unschuldige Algerier und
Algerierinnen. Sie töten, vergewaltigen, köpfen Babys, verbrennen sie im Ofen.
200.000 Menschen sind bis heute gestorben, 80 Prozent davon waren Zivilisten,
hauptsächlich Frauen. Europa hat weggeschaut - und Geschäfte gemacht mit den
herrschenden Militärs: Wir wissen nicht, wer bei euch tötet, lautete die
Rechtfertigung.
Die Frauen sind nicht die Einzigen, die von den Fundamentalisten
unterdrückt werden. Dichter, Schriftsteller, freie Journalisten, Künstler,
Homosexuelle, alle stören sie das fundamentalistische Ideal. Die Frau aber ist
eine fixe Idee der Fundamentalisten: In ihrem Körper trägt sie die
Andersartigkeit in sich. Sie war ein einfaches Opfer für die Fundamentalisten,
die in unserem krisengeschüttelten Land einen neuen gemeinsamen Feind
brauchten, um das Volk mobilisieren zu können.
Wahr ist: In Algerien hat der FIS den ersten Wahlgang vom
Dezember 1991 gewonnen. Unter fragwürdigen Umständen zwar, aber die
Fundamentalisten haben gewonnen. Im Januar 1992
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