Schwarzer, Alice
dazu prädestiniert, den Sieg eines Schwachsinnigen, eines Dummkopfs und
eines Feiglings zu akzeptieren, vor allem, wenn das Mittelmaß zum Richter erhoben
wird. Nichts, was mein Geschlecht darauf vorbereitet, zerstückelt zu werden,
ohne dass mein Leib daran erstickt. Nichts, weshalb ich dazu ausersehen wäre,
mich an Peitsche oder Stachel zu gewöhnen. Nichts, was mich dazu verurteilt,
Schönheit und Lust abzulehnen. Nichts, was mich dafür empfänglich macht, die
Kälte der rostigen Klinge an meinem Hals zu spüren.
Und wäre das der Fall, würde ich ohne Reue und Gewissensbisse
den Bauch meiner Mutter, die Zärtlichkeit meines Vaters und die Sonne, unter
der ich aufgewachsen bin, verfluchen.
Es ist möglich, die Gesellschaft durch unseren Mut, unsere
Entschlossenheit und unsere Kühnheit voranzubringen. Das ist nicht leicht.
Keineswegs. Die Wege zur Freiheit sind immer steile Wege. Aber es sind die
einzigen Wege, die zur Emanzipation der Menschheit führen. Ich kenne keine anderen.
Dieser wunderbare Moment der Geschichte, unserer Geschichte, lehrt uns, dass
erdulden nicht bedeutet, sich zu unterwerfen. Denn neben den Ungerechtigkeiten
und den Erniedrigungen gibt es auch den Widerstand.
Widerstand zu leisten, heißt, sich das Recht zu nehmen,
das eigene Schicksal selbst zu bestimmen. Das bedeutet für mich Feminismus.
Kein individuelles, sondern ein gemeinsames Leben für die Würde aller Frauen.
Ich verbünde mich als Frau mit allen, die von Gleichberechtigung und von der
Trennung von Staat und Religion als den Grundlagen der Demokratie träumen, und
gebe dadurch meinem Leben einen Sinn.
Die Geschichte ist reich an Beispielen von Religionen, die
sich über die Privatsphäre hinaus in den öffentlichen Raum ausweiten und zum
Gesetz werden. Verliererinnen sind dabei immer zuallererst die Frauen. Doch
nicht nur sie. Wenn Gottesgebot und Menschengesetz miteinander vermengt werden,
um alles Tun bis ins Kleinste zu lenken, kommt es zu einer plötzlichen
Erstarrung des Lebens in seiner ganzen Vielfalt. Es gibt keinen Raum mehr für
den Fortschritt der Wissenschaft, für Literatur, Theater, Musik, Tanz,
Malerei, Film, kurz, keinen Raum mehr zum Leben. Nur immer mehr
Rückschrittlichkeit und Verbote.
Eben deshalb habe ich eine tiefe Abneigung gegen jeden
Fundamentalismus, welcher Art auch immer, denn ich liebe das Leben. Ihr müsst
bedenken: Wenn die Religion Staat und Gesellschaft beherrscht, bewegen wir uns
nicht mehr im Raum des Möglichen, wir können nichts mehr infrage stellen, wir
beziehen uns nicht mehr auf Vernunft und Rationalität, die der Aufklärung so
wichtig waren. Es scheint mir unerlässlich, durch die Stärkung der Neutralität
des Staates den öffentlichen und den privaten Raum voneinander zu trennen, denn
nur die Trennung von Staat und Religion macht es möglich, einen gemeinsamen
Raum zu schaffen, sagen wir, einen staatsbürgerlichen Bezugsrahmen, fern von
allem Glauben und allem Unglauben, um die Zivilgesellschaft gestalten zu
können.
Monsieur Gerin (Anm. d. Hrsg.: der Bürgermeister, der die
Initiative zum Verbot der Burka ergriff), ich wende mich an Sie, ich möchte mit
Ihnen sprechen, Ihnen von der Angst erzählen, die ich am 25. März 1994
empfunden habe, als ich noch in Oran in Algerien lebte und die GIA (Bewaffnete
Islamische Gruppe) den Frauen in meiner Heimat befahl, den islamischen Schleier
zu tragen. An dem Tag ging ich mit unbedecktem Kopf, wie Millionen andere
Algerierinnen auch. Wir haben dem Tod die Stirn geboten. Wir haben mit den
Schlächtern der GIA Versteck gespielt, und über unseren unbedeckten Köpfen
schwebte die Erinnerung an Katia Bengana, eine 17-jährige Gymnasiastin, die am
28. Februar 1994 vor ihrer Schule ermordet worden war, weil sie unverschleiert
war.
Es gibt Schlüsselereignisse im Leben, die dem Schicksal
des Einzelnen eine besondere Richtung geben. Für mich war dies so eines. Seit
diesem Tag habe ich eine tiefe Abneigung gegen alles, was Hidschab, Schleier,
Burka, Niqab, Tschador, Dschilbab, Khimar oder ähnlich heißt. Heute nun stehen
Sie an der Spitze einer parlamentarischen Kommission, die sich mit dem Tragen
des Ganzkörperschleiers in Frankreich befassen soll.
Man täusche sich nicht. Der islamische Schleier verbirgt
die Angst vor den Frauen, vor ihrem Körper, ihrer Freiheit und ihrer
Sexualität. Schlimmer noch, die Perversion wird auf die Spitze getrieben, wenn
man Mädchen unter fünf Jahren verschleiert. Wann genau sah ich in Algerien
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