Schwarzer, Alice
wollte ihm zeigen, dass ich stark bin. Wie die »Rothäute« in den
Karl-May-Romanen, die ich nun offen - als Provokation! - aus der Stadtbücherei
mit nach Hause brachte: Indianer kennen keinen Schmerz. Ich war so aufsässig
und aggressiv, dass auch meine Mutter mich zu schlagen begann.
In dieser Zeit fing ich an, Hilferufe auszusenden. Einmal
habe ich meine langen Ärmel hochgekrempelt und meinen Mitschülern die
Blutergüsse an meinen Armen gezeigt, in der Hoffnung, dass sie's den Lehrern
weitersagen würden, was sie nicht taten. Niemand fragte mich, warum ich
plötzlich Kopftuch trage: als einziges Mädchen in meiner Schule. Ich wäre so
gerne gefragt worden. Nichts, nichts, nichts.
Einmal habe ich sogar beim Jugendamt angerufen. Direkt
dort hinzugehen, traute ich mich nicht, aber eine Sozialarbeiterin erklärte
sich zu einem geheimen Treffen mit mir in einem Café bereit. »Es gibt Probleme
bei uns zu Hause«, sagte ich: »Mein Stiefvater misshandelt meine Mutter und
mich.« Plötzlich kriegte ich Angst vor meiner eigenen Courage. »Aber ich will
auf keinen Fall, dass Sie sich einmischen.« Daran hielt sich das Jugendamt -
leider.
Am Ende des zehnten Schuljahrs in der Realschule hatte ich
so gute Zensuren, dass ich fürs Gymnasium empfohlen wurde. »Du darfst das
Abitur machen«, sagte mein Stiefvater, »aber nur, wenn du heiratest.« Das
lehnte ich ab. Aufs Gymnasium ging ich trotzdem, denn meine Mutter,
ausnahmsweise mal wieder in Hochform, meldete mich gegen seinen Willen dort an
- zum Glück hatte sie das Sorgerecht.
Ich war 16 Jahre alt und noch nie in einer Disco gewesen,
noch nie auf einer Fete; noch nie hatte ich mit einem Jungen Händchen gehalten
oder geknutscht. Die Mädchen, die ich jeden Sommer im HDI traf, sprachen auf
unseren unbeaufsichtigten Waldspaziergängen manchmal über ihre Angst vor
Zwangsverheiratung.
Doch je länger ich über die Ehe nachdachte, desto mehr verlor
sie ihren Schrecken für mich. Schließlich entschloss ich mich zu heiraten, weil
ich hoffte, dass ich endlich frei bin, wenn ich bei meinem Stiefvater ausziehe
und bei meinem Ehemann ein. Mir war klar, dass ich keine Chance hatte, eine
eigene Wahl zu treffen, aber wenn schon »arrangiert«, dann sollte mein Mutter
sich in ihrem muslimischen Bekanntenkreis nach geeigneten Kandidaten
umschauen. Was sie auch tat.
Der erste Kandidat war der totale Reinfall: ein deutscher
Konvertit, Bankkaufmann.
Der zweite Kandidat war ein Palästinenser, der in Deutschland
Mathematik studierte. Den fand ich ziemlich nett. Zwar durften wir uns nur
»beaufsichtigt« treffen; aber er gab mir heimlich Nachhilfeunterricht in Mathe
im Hauptbahnhof, wo ich manchmal länger auf die S-Bahn warten musste. Als mein
Stiefvater mitkriegte, dass ich ihn mochte, war's mit meinem Traum von
Freiheit durch Ehe vorbei - der Palästinenser wurde in die Wüste geschickt.
Bevor mir ein dritter Kandidat präsentiert werden konnte, hatte ich so die
Nase voll von der Hölle bei uns zu Hause, dass ich die Kraft aufbrachte zu
fliehen. Da war ich 17.
Wenn dieser Mann mich
schlug, attackierte er meist meinen Kopf. Während ich ihn mit meinen Armen
schützte, wehrte ich mich mit Tritten. Einmal habe ich meinem Stiefvater dabei
fast das Nasenbein gebrochen. An dem denkwürdigen Abend, an dem ich abgehauen
bin, war er mal wieder total ausgerastet; er prügelte meine Mutter mit einem
Stock. Er holte mit dem Stock zum Schlag aus und richtete ihn gegen mein
Gesicht, traf aber nur meine Arme, die ich schützend davorhielt - ein gezielter
Tritt und mein Stiefvater schrie vor Schmerz, ich hingegen war absolut ruhig,
keine Spur von Triumph oder Wut. Ich habe mein Kopftuch abgenommen und es an
die Garderobe gehängt, dann bin ich raus aus der Wohnung und rein in die
nächste Polizeiwache.
Es war spätabends. Nicht viel los. Als mich der
Wachhabende endlich zur Kenntnis nahm, habe ich ihm die frischen Verletzungen
an meinen Armen gezeigt. »Die hat mir mein Stiefvater zugefügt«, sagte ich:
»Meine Mutter schlägt er auch.« - »Geh nach Hause, und hol deine Mutter, danach
reden wir weiter!« - »Ich kann nicht wieder nach Hause zurück, und meine Mutter
käme sowieso nicht mit.« - »Dann können wir dir leider nicht helfen.« Die
Polizei hätte viele Möglichkeiten gehabt, mir zu helfen, wie ich später erfuhr.
In Berlin gibt es Frauenhäuser, ein Mädchenhaus, einen Jugendnotdienst.
Als ich mitten in der Nacht vor der Haustür meiner Oma
stand, hätte sie mich beinahe
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