Schwarzer Mittwoch
stellte Dawes seine Tasse zu seinen Füßen ins Gras. Als er sich wieder Frieda zuwandte, wirkte sein Blick eindringlicher.
»Ich würde sie auch gern finden«, sagte er.
»Wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
Er ließ sich mit der Antwort Zeit.
»Haben Sie Kinder?«, brach er schließlich das Schweigen.
»Nein.«
»Das war alles, was ich wollte. Diese ganze Herumfahrerei, die ganze Arbeit, die mir überhaupt nicht lag … im Grunde wollte ich nur Vater sein, und das war ich dann ja auch. Ich hatte eine wunderbare Frau und die beiden Jungs, und als Krönung kam noch Lila. Ich habe die Jungs geliebt und es sehr genossen, mit ihnen Ball zu spielen und fischen zu gehen – alles, was man mit Söhnen eben so macht. Aber als ich dann Lila sah, gleich in dem Moment, als sie auf die Welt kam, dachte ich mir, du bist meine kleine …« Er brach ab und gab ein schniefendes Geräusch von sich. Frieda registrierte, dass seine Augen feucht schimmerten. Er hustete. »Sie war das hübscheste kleine Mädchen, das man sich vorstellen kann, klug, witzig und wunderschön. Doch dann, tja … warum passieren solche Dinge? Es ist müßig, nach dem Warum zu fragen. Ihre Mum, meine Frau, wurde krank. Sie war jahrelang krank, und dann ist sie gestorben. Lila war damals dreizehn. Plötzlich kam ich nicht mehr an sie heran. Ich dachte immer, zwischen uns bestünde ein besonderes Band, aber auf einmal war es, als spräche ich eine Fremdsprache. Ihr Freundeskreis veränderte sich, und sie war immer öfter unterwegs, bis sie schließlich gar nicht mehr nach Hause kam. Ich hätte mehr tun sollen, um das zu verhindern, aber ich war ja berufsbedingt auch nie zu Hause.«
»Und ihre Brüder?«
»Die waren zu der Zeit schon ausgezogen. Ricky ist in der Armee, und Steve lebt in Kanada.«
»Wie ging es dann weiter?«
Dawes breitete hilflos die Hände aus. »Was ich auch tat, es war nie genug oder nicht das, was sie brauchte. Wenn ich versuchte, ein Machtwort zu sprechen, trieb ich sie dadurch nur noch weiter von mir fort. Versuchte ich, nett zu sein, hatte ich immer das ungute Gefühl, dass es dafür zu spät war. Je mehr ich sie bei mir haben wollte, desto mehr stieß sie mich zurück. Ich war nur noch ihr langweiliger alter Dad. Mit siebzehn lebte sie schon die meiste Zeit bei Freunden. Anfangs bekam ich sie noch alle paar Tage zu Gesicht, später nur noch alle paar Wochen. Da behandelte sie mich bereits ein bisschen wie einen Fremden. Nach einer Weile kam sie gar nicht mehr heim. Ich habe etliche Male versucht, sie aufzuspüren, aber ohne Erfolg. Irgendwann habe ich dann resigniert. Trotzdem habe ich nie aufgehört, an sie zu denken. Sie fehlt mir immer noch so. Mein Mädchen.«
»Wissen Sie, womit sie ihren Lebensunterhalt verdient hat?«
Frieda sah, wie er die Zähne zusammenbiss. Sein Gesicht wirkte plötzlich sehr blass.
»Sie hatte Probleme. Vielleicht waren auch Drogen im Spiel. Auf jeden Fall aß sie nicht richtig. Damit hatte sie schon jahrelang Probleme.«
»Die Freunde, von denen Sie gesprochen haben … Kennen Sie deren Namen?«
Dawes schüttelte den Kopf.
»Ich kannte die Freundinnen, die sie früher hatte, als sie noch jünger war. Zum Beispiel diese Agnes, die Sie auch kennen. Sie waren sehr süß miteinander – wie sich Mädchen eben zusammen mit ihren Freundinnen verhalten: Sie kichern stundenlang, gehen gemeinsam Klamotten kaufen und kommen sich dabei viel erwachsener vor, als sie sind. Aber mit der Zeit hat Lila diese Mädchen alle durch neue Freunde ersetzt, die sie nicht mehr mit nach Hause brachte. Sie hat sie mir nie vorgestellt.«
»Haben Sie eine Ahnung, wo sie wohnte, nachdem sie endgültig von zu Hause ausgezogen war?«
Wieder schüttelte er den Kopf.
»Anfangs wohl noch irgendwo hier in der Gegend«, sagte er, »aber dann muss sie weiter weg gezogen sein.«
»Haben Sie sie als vermisst gemeldet?«
»Sie war fast schon achtzehn. Einmal habe ich mir solche Sorgen gemacht, dass ich zur Polizei bin, doch als ich ihr Alter erwähnte, wollte der diensthabende Beamte nicht mal einen Bericht schreiben.«
»Wann war das? Beziehungsweise wann haben Sie sie das letzte Mal gesehen?«
»Lieber Himmel«, antwortete er, nachdem er kurz überlegt hatte, »das ist nun schon über ein Jahr her. Im November vorletzten Jahres. Nicht zu fassen. Das gehört zu den Dingen, die mir durch den Kopf gehen, wenn ich hier draußen im Garten arbeite: Dass sie hoffentlich eines Tages wieder zur Tür hereinkommen wird, so
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