Schwarzer Mittwoch
hatte er bereits abgehakt, neben einen ein Fragezeichen gesetzt und zehn durchgestrichen. Blieben noch neun Familien, die er besuchen musste – neun Mütter, die ihn mit bekümmertem Gesicht und gequältem Blick ansehen würden. Neun weitere Vermisstenfälle. Neun weitere Fotos für seine Sammlung junger Frauengesichter an der Korkwand seines Arbeitszimmers.
Sie starrten zu ihm herunter, während er sich mit seinem Whisky und seiner Zigarette auf einen Sessel sinken ließ. Früher hatte er nie im Haus geraucht, aber inzwischen gab es niemanden mehr, der sich darüber aufregte. Er ließ den Blick von einem Gesicht zum anderen wandern: Da war das erste Mädchen, Hazel Barton, mit ihrem strahlenden Lächeln. Er hatte das Gefühl, sie mittlerweile gut zu kennen. Dann folgte Vanessa Dale, die davongekommen war. Roxanne Ingatestone mit dem asymmetrischen Gesicht und den graugrünen Augen. Daisy Gordon, die so eifrig wirkte und an einer Wange ein kleines Grübchen hatte. Vanessa Dale ging es gut, Hazel Barton war tot. Und die anderen beiden? Er drückte seine Zigarette aus und zündete sich gleich die nächste an, um noch mehr Rauch in seine Lungen zu saugen, während er weiter in diese Gesichter starrte, bis er fast das Gefühl hatte, dass sie vor seinen Augen zum Leben erwachten und seinen Blick erwiderten – ihn aufforderten, sie zu finden …
Das war aber eine sehr rätselhafte kleine E-Mail. Was ist los? Lass mich wissen, wie es dir geht, und wie es Reuben, Josef und Sasha geht. Was ist mit Chloë? Ich wüsste so gerne Genaueres darüber, wie du deine Tage verbringst. Das fehlt mir. Du fehlst mir.
Sandy xxx
35
U m acht war Frieda mit Sasha verabredet. Sasha hatte angerufen und gesagt, sie müsse ihr unbedingt etwas erzählen. Aus ihrem Ton hatte Frieda nicht schließen können, ob es sich um etwas Gutes oder Schlechtes handelte, doch dass es etwas Wichtiges war, stand für sie fest. Vorher schaute sie wie versprochen bei Olivia vorbei.
Sie wusste nicht recht, was sie erwartete, erschrak aber über das Aussehen ihrer Schwägerin. Olivia öffnete ihr die Tür in einer gestreiften, von einer Kordel zusammengehaltenen Schlabberhose und einem fleckigen Top. Ihre Füße steckten in Plastik-Flipflops. Der Lack auf ihren Zehennägeln war stellenweise abgeblättert, ihr Haar strähnig und fettig. Besonders alarmierend aber fand Frieda die Tatsache, dass sie im blassen, aufgeschwemmten Gesicht ihrer Schwägerin nicht einmal einen Hauch von Schminke entdecken konnte. Ihr ging durch den Kopf, dass sie Olivia noch nie ohne gesehen hatte. Sobald ihre Schwägerin morgens aus dem Bett kam, trug sie sorgfältig Grundierung, Eyeliner, dicke Wimperntusche und leutend roten Lippenstift auf. Ohne diese Bemalung wirkte sie verletzlich und angeschlagen. Da war es schwer, ihr böse zu sein.
»Hast du vergessen, dass ich vorbeikommen wollte?«
»Nein, eigentlich nicht. Ich habe nur nicht auf die Uhrzeit geachtet.«
»Es ist halb sieben.«
»Lieber Himmel. Wie schnell die Zeit vergeht, wenn man schläft.« Sie lachte gequält.
»Bist du krank?«
»Gestern ist es spät geworden. Ich habe mir bloß ein kleines Nickerchen gegönnt.«
»Soll ich uns Tee machen?«
»Tee?«
»Ja.«
»Ich könnte einen Drink vertragen.«
»Erst gibt es Tee. Wir müssen einiges besprechen.«
»Zum Beispiel, dass ich eine Rabenmutter bin. Das meinst du doch, oder?«
»Nein.«
Sie gingen in die Küche, die schlimmer aussah denn je. Das Ganze erinnerte ein bisschen an das Chaos, das Chloë in Friedas Küche angerichtet hatte: überall Gläser und Flaschen, Abfall, der aus Mülltüten auf den klebrigen Fliesenboden quoll, große Wachsflecken auf dem Tisch, ein säuerlicher Geruch in der Luft.
Frieda begann das benutzte Geschirr zu stapeln und in die Spüle zu stellen, um Platz zu schaffen.
»Sie ist mir weggelaufen, musst du wissen«, erklärte Olivia, die den Zustand des Raums gar nicht wahrzunehmen schien. »Zu dir hat sie wahrscheinlich gesagt, ich hätte sie rausgeworfen, aber das stimmt nicht. Sie hat mir fürchterliche Sachen an den Kopf geschmissen und ist dann abgehauen.«
»Sie sagt, du hättest sie mit einer Haarbürste geschlagen.«
»Falls ich das wirklich getan habe, dann nur mit einer mit ganz weichen Borsten. Meine Mutter hat mich immer mit einem Holzlöffel verhauen.«
Frieda hängte ein paar Teebeutel in die Kanne und schnappte sich zwei Tassen aus der Spüle, um sie abzuwaschen.
»Hier ist alles ein bisschen außer Kontrolle
Weitere Kostenlose Bücher