Schwarzer Mittwoch
die so krank und schwach war und sich trotzdem um uns kümmerte, und plötzlich war da diese andere Frau, die unseren Dad ebenfalls liebte. Das kam mir so ungerecht vor.«
»Wann war die Mail abgeschickt worden?«
»Am 29. April 2001.«
»Du bleibst trotzdem dabei, dass du es deiner Mutter nicht gesagt hast?«
»Ich habe es ihr nicht gesagt.«
»Aber du hast eine verstümmelte Puppe durch den Briefschlitz der Familie Lennox geschoben.«
Ben lief dunkelrot an.
»Ja. Das war eine spontane Aktion von mir. Ich habe die blöde Puppe im Haus eines Freundes gesehen, in einem großen Korb voller Spielsachen, die seiner kleinen Schwester gehörten. Aus einer Laune heraus habe ich sie genommen und ein bisschen an ihr rumgeschnitten, um der Frau zu zeigen, was wir von ihr hielten. Irgendetwas musste ich einfach tun.«
»Sie hat deine kleine Botschaft trotzdem nie erhalten. Ihre kranke Tochter hat die Puppe gefunden und dachte, sie wäre für sie bestimmt.«
»O Scheiße!«
»Du und dein Bruder, ihr habt also gewusst, wo sie wohnte?«
»Ja.«
»Warst du öfter dort?«
»Nein, eigentlich nicht.«
»Eigentlich?«
»Hin und wieder bin ich vorbeigegangen, weil ich sie sehen wollte.«
»Hast du sie gesehen?«
»Nein. Nur ihre Kinder. Zumindest glaube ich, dass sie das waren. Wenn Sie es genau wissen wollen, habe ich mich wegen der ganzen Geschichte ziemlich mies gefühlt. Wie vergiftet.«
»Gibt es etwas, das du mir noch nicht erzählt hast?«
Ben schüttelte betrübt den Kopf. »Josh wird stinksauer auf mich sein. Ich musste ihm schwören, dass ich nichts sage.«
»Das passiert, wenn man anfängt, das Gesetz zu brechen. Die Leute werden stinksauer auf einen.«
46
F rieda ließ sich von Chloë Judiths Mailadresse geben und schickte ihr eine kurze Nachricht, die besagte, sie werde am folgenden Nachmittag gegen vier am Primrose Hill auf sie warten, direkt am Eingang, nur ein paar Minuten von Judiths Schule entfernt. Das Wetter war umgeschlagen. Inzwischen stürmte es, und die grauen, tief hängenden Wolken sahen nach Regen aus.
Sie entdeckte Judith schon lange, bevor diese sie bemerkte. Das Mädchen befand sich in einer Schar von Freundinnen, die mit der Zeit immer lockerer wurde und sich schließlich ganz auflöste. Am Ende war es nur noch Judith, die langsam auf das Tor zusteuerte. Sie trug wieder die klobigen Stiefel, in denen ihre Beine dünner denn je wirkten, und hatte sich einen orangeroten Schal mehrmals um den Kopf geschlungen, so dass er aussah wie ein Turban, aus dem widerspenstige Haarsträhnen hervorstanden. Selbst ihr Gang wirkte an diesem Tag wie aus dem Gleichgewicht geraten, die Füße in den schweren Stiefeln schienen mehr über den Asphalt zu stolpern als zu gehen. Das Mädchen machte einen gequälten Eindruck, ihr Blick wanderte unruhig hin und her, und sie hielt sich immer wieder eine Hand vor den Mund, als versuchte sie sich selbst am Reden zu hindern.
Als sie den Park betrat und Frieda auf ihrer Bank entdeckte, beschleunigte sie ihre Schritte. In ihrer Miene spiegelte sich eine rasche Abfolge von Gefühlsregungen wider: Bestürzung, Wut, Angst. Schließlich wurde ihr Gesicht zu einer Maske der Feindseligkeit. Die blauen Augen funkelten zornig.
»Warum ist sie dabei?«
»Weil ich nicht diejenige bin, mit der du sprechen musst, sondern DC Long. Yvette.«
»Ich habe keine Ahnung, worauf du hinauswillst. Ich muss weder mit dir noch mit ihr sprechen. Mir ist überhaupt nicht nach Reden zumute. Ihr könnt mich alle mal! Lasst mich in Ruhe, ihr alle!«
Ihre Stimme überschlug sich. Dann entrang sich ihrer Kehle ein heiseres Schluchzen, und sie begann zu schwanken, als bräche sie jeden Moment zusammen.
Frieda stand auf und deutete auf die Bank.
»Du stehst unter einem schrecklichen Druck. Wahrscheinlich ist dir, als würdest du gleich explodieren.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest. Was soll ich überhaupt hier? Ich will nach Hause … oder irgendwo anders hin«, fügte sie hinzu.
Aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Einen Moment lang wirkte sie so jung, unsicher und verschreckt, dass Frieda schon befürchtete, sie würde gleich in Tränen ausbrechen. Dann, als trügen sie ihre Beine plötzlich nicht mehr, sank sie neben Yvette auf die Bank, zog die Knie an und schlang die Arme schützend um ihren Körper.
»Sag Yvette, warum du solche Angst hast.«
»Was meinst du damit?«, flüsterte Judith.
»Du kannst ihn nicht schützen.«
»Wen?«
»Deinen Vater.«
Judith schloss die
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