Schwarzer Mittwoch
Augen. Ihr Gesicht wirkte auf einmal schlaff und müde wie das einer Frau mittleren Alters.
»Manchmal glaube ich, ich werde irgendwann aufwachen und feststellen, dass das alles nur ein Albtraum war. Mum wird noch da sein, und wir werden uns wegen blöder Kleinigkeiten streiten – wegen meiner Hausaufgaben und weil ich mich schminke und abends zu lange wegbleibe –, und all die schrecklichen Dinge werden gar nicht passiert sein. Ich wünschte, ich hätte nie einen Freund gehabt. Ich wünschte, ich wäre Zach nie begegnet. Wenn ich an ihn denke, fühle ich mich ganz krank. Ich möchte, dass alles wieder so wird, wie es war.« Sie riss die Augen auf und sah Frieda an. »Ist er meinetwegen gestorben?«
»Sag du es mir.«
Da brach Judith doch noch in Tränen aus. Sie ließ den Kopf sinken, schlug die Hände vors Gesicht und wiegte sich weinend vor und zurück. Zwischen ihren Fingern quollen Tränen hervor, und ihr ganzer Körper zuckte, während sie schluchzend und schniefend nach Luft rang. Yvette starrte sie zunächst nur an. Dann streckte sie zögernd eine Hand aus und berührte das Mädchen an der Schulter, doch Judith reagierte sehr heftig und stieß sie mit einer Hand weg. Es dauerte etliche Minuten, bis das Schluchzen nachließ und schließlich ganz aufhörte. Judith hob den Kopf. Sie hatte vom Weinen rote Flecken, und dunkle Mascaraströme liefen ihr über die Wangen. Sie war kaum noch zu erkennen. Wortlos reichte Frieda ihr ein Papiertaschentuch. Während Judith damit ihr verschmiertes Gesicht betupfte, gab sie weiterhin leise Schnieflaute von sich.
»Ich habe ihm von Zach erzählt«, flüsterte sie nach einer Weile.
»Ja, das habe ich mir schon gedacht.«
»Hat er ihn umgebracht?«
»Das weiß ich nicht.« Frieda gab ihr ein weiteres Taschentuch.
»Aber es war richtig, dass du es uns erzählt hast«, fügte Yvette entschieden hinzu. »Wir hätten es sowieso herausgefunden. Du brauchst dich nicht dafür verantwortlich zu fühlen.«
»Doch, natürlich bin ich dafür verantwortlich! Es ist meine Schuld. Ich hatte Sex mit ihm.« Sie verzog das Gesicht. »Und dann habe ich es meinem Dad erzählt. Er wollte mich nur beschützen. Was wird denn jetzt mit ihm? Und was passiert mit uns? Dora ist doch noch ein kleines Mädchen.«
»Yvette hat recht, Judith: Du bist nicht dafür verantwortlich.«
»Du hast das Richtige getan«, fügte Yvette hinzu, während sie aufstand.
»Er wird wissen, dass ich diejenige war, die es Ihnen erzählt hat.«
»Er hätte dich nie in diese Lage bringen dürfen«, entgegnete Yvette.
»Warum passiert uns das alles? Ich würde so gern die Zeit zurückdrehen. Vor ein paar Wochen war noch alles in Ordnung.«
»Wir werden dich jetzt nach Hause bringen«, sagte Frieda.
»Ich kann ihm jetzt nicht unter die Augen treten. Das schaffe ich einfach nicht. Mein armer, lieber Dad … o Gott.« Sie stieß einen zittrigen Seufzer aus.
Frieda rang sich zu einer Entscheidung durch. »Ihr kommt mit zu mir«, erklärte sie, während ihr durch den Kopf ging, dass ihr ruhiges, wohlgeordnetes Zuhause zu einer Art Zirkusarena geworden war, in der andere Leute ihren Kummer und ihr Chaos ausbreiteten. »Du, Ted und Dora. Wir rufen die beiden gleich an.« Sie nickte Yvette zu. »Und Sie werden mit Karlsson sprechen müssen.«
Als Yvette Karlsson darüber informierte, was sie von Judith erfahren hatte, starrte er sie einen Moment lang wortlos an.
»Dieser gottverdammte Vollidiot!«, sagte er schließlich. »Wer soll sich jetzt um seine Familie kümmern? Was für ein Schlamassel! Russell Lennox wusste von Judith und Zach. Josh und Ben Kerrigan wussten über ihren Vater und Ruth Lennox Bescheid. All diese Geheimnisse. Wo soll das enden?« Sein Telefon läutete. Er ging ran, hörte kurz zu, sagte: »Wir sind gleich da«, und beendete das Gespräch.
»Das war Kollege Tate von der Spurensicherung. Er hat uns zu einer Führung durch Zachs Wohnung eingeladen.«
»Aber …«
»Haben Sie etwas Besseres vor?«
James Tate war ein kleiner, untersetzter, dunkelhäutiger Mann mit grau meliertem Haar. Er verfügte über eine ziemlich energische Art und einen sarkastischen Sinn für Humor. Karlsson und er kannten sich schon seit Jahren. In seinem Beruf war er sehr gut, gewissenhaft und objektiv. Er erwartete sie bereits, begrüßte sie mit einem kleinen Nicken und reichte ihnen dann Überschuhe und dünne Latexhandschuhe, die sie rasch überstreiften, ehe sie den Tatort betraten.
»Hättest du mir das nicht
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