Schwarzer Mittwoch
Jahre aus der Schule nach Hause gebracht hatten: kunterbunte Gemälde mit Gestalten, deren Beine direkt an der verwackelten Kreisform des Kopfes ansetzten, von dem die Haare wie Ausrufezeichen abstanden, Stofffetzen, bestickt mit Vor-, Kreuz- und Kettenstich, eine winzige selbst gebastelte Uhr ohne Batterie, eine kleine Schachtel, besetzt mit klebstoffüberzogenen Muscheln, ein blau bemalter Tontopf, bei dem man deutlich sehen konnte, wo sich die Finger in den asymmetrischen Rand gedrückt hatten.
»Auf dem Dachboden stehen auch noch mehrere Mülltüten voll alter Babysachen«, erklärte Karlsson, während er die Truhe wieder schloss. »Wir sind noch nicht dazu gekommen, sie unter die Lupe zu nehmen. Es dauert lange, sich durch ein solches Haus zu arbeiten. Hier wurde nichts weggeworfen.«
»Fotoalben?«
»Ein ganzes Regal voll. Sie hat unter jedes einzelne das Datum und den Anlass geschrieben. Als Mutter hat sie jedenfalls keine halben Sachen gemacht.«
»Nein.«
Frieda trat an das Fenster, das auf den Garten hinausging. Der Obstbaum blühte bereits, und an einem sonnigen Plätzchen saß eine Katze.
»Hier gibt es nichts, wovon sie nicht gewollt hätte, dass man es sieht«, erklärte sie.
»Wie meinst du das?«
»Ich stelle immer wieder fest, dass kein Leben es verträgt, wenn man mit einem Scheinwerfer in die Ecken und Winkel leuchtet.«
»Aber?«
»Aber nach allem, was du mir erzählst und was ich gesehen habe, war sie absolut bereit für den Scheinwerfer, findest du nicht? Dieses Haus kommt mir vor wie eine Art Bühne.«
»Eine Bühne wofür?«
»Für ein Theaterstück über eine vorbildliche Frau.«
»Die Rolle des Zynikers gebührt doch eigentlich mir. Soll das heißen, du bist der Meinung, dass kein Mensch derartig vorbildlich sein kann?«
»Ich bin Therapeutin, Karlsson. Natürlich denke ich das. Wo sind Ruth Lennox’ Geheimnisse?«
Aber natürlich, ging ihr durch den Kopf, als sie Stunden später in der Nummer 9 saß, dem Café ihrer Freunde, von wo sie nicht mehr weit nach Hause hatte – natürlich stecken wirkliche Geheimnisse ebenso wenig in Gegenständen und Terminkalendern wie in den Worten, die wir sprechen, oder der Miene, die wir aufsetzen, und auch nicht in Wäscheschubladen, Aktenschränken, gelöschten Texten oder tief in irgendwelchen versteckten Tagebüchern. Sie sitzen noch viel tiefer, wo nicht einmal wir selbst sie erahnen. Über dieses Thema dachte Frieda gerade nach, während sie Jack Dargan gegenübersaß, den sie als Tutorin betreute und sogar während ihrer Genesungsphase mindestens einmal pro Woche traf, um sich über seine Fortschritte zu informieren und sich seine Zweifel anzuhören. Denn Jack plagten jede Menge Zweifel. Nur Frieda stellte er nie infrage: Sie war die Konstante in seinem Leben, der einzige Fixpunkt, auf den er vertraute. Mit der Zeit waren sie Freunde geworden, und Frieda hatte ihm das Du angeboten.
»Ich muss dich um einen Gefallen bitten«, sagte Jack gerade in lebhaftem Ton. »Du brauchst gar nicht so besorgt zu gucken, ich habe nicht vor, meine Patienten im Stich zu lassen oder so was in der Art. Vor allem nicht Carrie.« Seit sie dahintergekommen war, dass ihr Ehemann Alan sie nicht verlassen hatte, sondern von seinem Zwilling Dean Reeve ermordet worden war, hatte Carrie zweimal die Woche eine Sitzung bei Jack, der allem Anschein nach noch besser mit ihr zurechtkam, als Frieda, die an ihn glaubte, erwartet hatte. Dieser Frau gegenüber legte er sowohl seine pessimistischen Selbstzweifel als auch seine Schüchternheit ab und konzentrierte sich stattdessen auf ihren Kummer.
»Was für einen Gefallen?«
»Ich habe eine Arbeit über das Thema Trauma geschrieben, und bevor ich sie einreiche, hätte ich gern, dass du einen Blick darauf wirfst.«
Frieda zögerte. Sie fühlte sich dem Trauma noch zu nahe, um eine Arbeit darüber objektiv beurteilen zu können. Nachdenklich betrachte sie Jacks gerötetes Gesicht, sein zotteliges Haar und seine schrägen Klamotten. (An diesem Tag trug er eine braune, abgewetzte Jeans, ein gelb-orange gemustertes Shirt aus dem Secondhandladen, das sich nicht mit seiner Haarfarbe vertrug, und darüber trotz des wolkenlosen Himmels eine grüne Regenjacke.) In seiner Verwirrung erinnerte er sie an Ted Lennox und so viele andere noch unfertige, schüchterne junge Männer.
»In Ordnung«, antwortete sie widerstrebend.
»Wirklich?«
»Ja.«
»Darf ich dich etwas fragen?«
»Fragen darfst du immer.«
»Aber ich kann nicht
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