Schwarzer Mond: Roman
gewesen. Sie hatte unter einer kalten, dunklen Angst gelitten, die sie leicht hätte überwältigen können, und das war etwas völlig anderes als eine ganz normale Anspannung. Diese Art von Angst hatte sie nie zuvor verspürt, und sie wusste, dass George Hannaby sie auch nie im Leben verspürt hatte, zumindest nicht im Operationssaal. Wenn das so weiterging, wenn diese Angst zu ihrer ständigen Begleiterin bei Operationen wurde ... was dann?
Um halb elf an diesem Abend, als sie im Bett las, klingelte das Telefon. Es war George Hannaby. Wenn der Anruf früher gekommen wäre, wäre sie in Panik geraten und hätte vermutet, dass Johnny O'Days Zustand sich bedenklich verschlimmert hatte, aber inzwischen hatte sie ihr seelisches Gleichgewicht zurückerlangt.
»Ich sehr bedaure. Missy Weiss nicht zu Hause. Ich nicht sprechen Englisch. Rufen Sie wieder an in nächste April bitte.«
»Wenn das ein spanischer Akzent sein soll«, sagte George, »so ist er einfach grauenvoll. Wenn er hingegen irgendwie orientalisch sein soll, so ist er nur schrecklich. Seien Sie froh, dass Sie sich für eine medizinische Laufbahn und nicht für die Bühne entschieden haben.«
»Wohingegen Sie sich als Theaterkritiker bestimmt bewährt hätten.«
»Ich habe wirklich das feine Gespür, das kühle Urteil und den unfehlbaren Durchblick eines erstklassigen Kritikers, nicht wahr? Aber jetzt hören Sie mal gut zu: Ich habe gute Neuigkeiten. Ich glaube, Sie sind soweit, Sie neunmalkluges Geschöpf.«
»Wofür?«
»Der große Augenblick. Eine Aortentransplantation.«
»Wollen Sie damit sagen ... ich soll Ihnen nicht nur assis tieren? Es völlig selbständig tun?«
»Chefchirurgin für die gesamte Operation.«
»Eine Aortentransplantation?«
»Aber ja. Sie haben sich doch schließlich nicht auf kardiovaskuläre Chirurgie spezialisiert, um für den Rest Ihres Lebens nur Blinddärme zu entfernen.«
Sie hatte sich im Bett aufgesetzt. Ihr Herz schlug schneller, und ihre Wangen waren vor Aufregung gerötet. »Wann?«
»Nächste Woche. Diesen Donnerstag oder Freitag wird eine Patientin aufgenommen. Sie heißt Fletcher. Wir werden am Mittwoch ihre Krankengeschichte zusammen durchgehen.
Wenn alles planmäßig verläuft, sollten wir am Montagmorgen eigentlich operieren können. Selbstverständlich übernehmen Sie auch die Verantwortung für die Durchführung der letzten erforderlichen Untersuchungen und für die Entscheidung, ob operiert werden soll.«
»O Gott!«
»Sie werden Ihre Sache gut machen.«
»Sie werden doch dabei sein?«
»Ich werde Ihnen assistieren ... für den Fall, dass Sie das Gefühl haben sollten, mich plötzlich für irgend etwas zu brauchen.«
»Und Sie werden die Operation übernehmen, wenn ich Mist baue.«
»Reden Sie keinen Unsinn! Sie werden keinen Mist bauen.«
Sie dachte einen Augenblick darüber nach, dann sagte sie: »Nein, ich werde keinen Mist bauen.«
»Das ist meine Ginger! Sie können alles, worauf Sie Ihren Willen konzentrieren.«
»Sogar auf einer Giraffe zum Mond reiten.«
»Was?«
»Ein Familienscherz.«
»Hören Sie zu, ich weiß, dass Sie heute nachmittag einer Panik nahe waren, aber machen Sie sich keine Sorgen. Das machen alle jungen Ärzte einmal durch, die meis ten gleich zu Beginn ihrer Tätigkeit in der Chirurgie. Man nennt das >Die Zerreißproben<. Aber Sie waren von Anfang an so kühl und gefasst, dass ich allmählich glaubte, Sie würden diese Zerreißprobe nie durchmachen müssen. Heute kamen Sie aber doch noch in diese Situation. Diese Zerreißprobe kam für Sie einfach später als für die meisten anderen. Und obwohl ich mir gut vorstellen kann, dass Sie sich deswegen immer noch Sorgen machen, sollten Sie, glaube ich, doch froh darüber sein. Die Zerreißprobe ist eine wichtige Erfahrung. Wesentlich ist doch nur, dass Sie großartig mit Ihrer Nervosität fertig wurden.«
»Danke, George. Sie hätten zwar einen guten Theaterkritiker abgegeben, aber einen noch besseren Baseballtrainer.«
Einige Minuten später, nachdem sie ihr Gespräch beendet hatten, legte sie ihren Kopf wieder auf die Kissen, schlang die Arme um sich und fühlte sich so großartig, dass sie sogar leise vor sich hin lachte. Nach einer Weile ging sie zum Wandschrank und wühlte darin herum, bis sie das Fotoalbum der Familie Weiss fand. Sie nahm es mit ins Bett und betrachtete die Fotos von Jacob und Anna, denn obwohl sie ihre Erfolge nicht mehr mit ihnen teilen konnte, brauchte sie doch das Gefühl, dass sie ihr nahe
Weitere Kostenlose Bücher