Schwarzer Mond: Roman
»Ich?«
Emmys voller Aufmerksamkeit beraubt, gab die Flöte nur noch einige einzelne Töne von sich und verstummte schließlich.
Sie hing immer noch frei in der Luft, schwankte aber heftig. Als Emmy ihren Blick erneut auf das Instrument richtete, kam es wieder ins Gleichgewicht und begann wieder zu spielen.
»Ich!« sagte sie erstaunt. Sie drehte sich nach ihrer Schwester um, die immer noch von Furcht und Faszination wie gelähmt dastand.
»Ich!« wiederholte Emmy; dann sah sie ihre Eltern an, die auf der Schwelle standen.
»Ich!«
Stefan ahnte, was das Kind empfinden musste, und tiefe Rührung schnürte ihm die Kehle zu, so dass er Mühe hatte zu atmen.
Noch vor einem Monat war Emmy ein Krüppel gewesen; sie hatte sich nicht einmal allein anziehen können, und die Zukunft hatte für sie nur Invalidität, Schmerzen und den Tod bereitgehalten. Nun war sie nicht nur vollkommen geheilt, sondern besaß auch noch diese spektakuläre Gabe.
Vater Wycazik hätte ihr gern erzählt, dass sie diese Gabe Brendan Cronin, ihrem Pudge, zu verdanken hatte, aber dann hätte er ihr auch erklären müssen, woher Brendan seine Gabe hatte, und das konnte er nicht.
Außerdem hatte er nicht einmal die Zeit, den Halbourgs das, was er wusste, mitzuteilen. Es war schon Viertel nach neun. Er hätte jetzt schon in Evanston sein sollen. Er durfte keine Zeit mehr verlieren, denn er vermutete allmählich, dass er noch heute nach Nevada fliegen würde. Die Geschehnisse im Elko County mussten noch viel unglaublicher sein als alles, was hier in Chicago vorging, und er wollte unbedingt daran teilnehmen.
Emmy richtete ihren Blick auf die schwebenden Bären, und sie begannen sogleich wieder anmutig zu tanzen. Das Mädchen kicherte begeistert.
Stefan fiel ein, was Winton Tolk ihm vor kurzem in der Wohnung der Mendozas gesagt hatte: Die Kraft ist noch in mir. Ich weiß es. Ich fühle es. Und es ist nicht nur die Kraft zu heilen. Es ist mehr.
Winton hatte nicht gewusst, über welche Kräfte er außer der Fähigkeit, durch Handauflegung zu heilen, noch verfügen könnte, aber Stefan vermutete, dass dem Polizisten noch einige große Überraschungen bevorstanden.
»Vater, werden Sie es selbst machen?« fragte Mr. Halbourg von der Türschwelle. Seine Stimme war schrill vor Angst.
»Bitte!« unterstützte ihn seine Frau. »Wir wollen, dass es so bald wie möglich gemacht wird. Sofort! Können Sie gleich damit beginnen?«
Verblüfft fragte Stefan: »Entschuldigung -aber was soll ich machen?«
»Natürlich einen Exorzismus.«
Stefan starrte sie ungläubig an; erst jetzt begriff er, warum sie so verstört waren und ihn mit solcher Erleichterung begrüßt hatten. Er lachte.
»Ein Exorzismus ist absolut nicht erforderlich. Dies ist nicht Satans Werk. O nein! Du lieber Himmel, nein!«
Aus dem Augenwinkel sah er auf dem Fußboden eine Bewegung. Er blickte nach unten und sah einen sechzig Zentimeter großen Teddybären, der auf seinen steifen Plüschbeinen an ihm vorbeistapfte.
Winton Tolk hatte gesagt, dass es vermutlich lange dauern würde, bis er sich seiner Kräfte voll bewusst würde und mit ihnen richtig umzugehen lernte. Entweder irrte er sich, oder aber diese Aufgabe war für Emmy viel leichter als für ihn. Das könnte durchaus der Fall sein. Kinder waren wesentlich anpassungsfähiger als Erwachsene.
Emmys Eltern und ihre zweite Schwester kamen nun auch ins Zimmer, fasziniert, aber immer noch beunruhigt.
Stefan verstand ihre Beunruhigung. Alles schien in Ordnung zu sein, die Kraft war zweifellos positiver Art. Aber diese fantastische Situation war so ehrfurchtgebietend und hatte doch zugleich etwas so naiv Ansprechendes an sich, dass sogar ein unverbesserlicher Optimist wie Stefan Wycazik eine leichte Unruhe verspürte.
Nachdem Ginger in einer öffentlichen Telefonzelle bei einer Tankstelle in Elko mit Alexander Christophson gesprochen hatte, begleitete sie Faye zu Elroy und Nancy Jamisons Ranch im Lemoille Valley, 35 Kilometer von Elko entfernt. Die Jamisons waren jene Freunde der Blocks, die am Abend des 6. Juli des vorletzten Sommers bei ihnen zu Besuch gewesen waren. Bestimmt waren auch sie in die unbekannten Ereignisse verwickelt und im Motel einer Gehirnwäsche unterzogen worden, obwohl sie selbst glaubten, man hätte ihnen erlaubt, die Quarantänezone zu verlassen und Faye und Ernie Block für einige Tage auf ihre Ranch mitzunehmen. Das hatten ja auch die Blocks selbst bis vor kurzem geglaubt.
Ginger und Faye wollten den
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