Schwarzer Mond: Roman
antworten, nahm sie ihn beim Arm, zog ihn ins Haus, schlug die Tür zu und lief zur Treppe.
»Hier hinauf. Schnell!«
Stefan hatte zwar damit gerechnet, dass den Halbourgs vielleicht irgend etwas Besonderes an Emmy aufgefallen sein könnte, aber auf eine weitere akute Krisensituation war er nicht gefasst gewesen. Im Korridor der ersten Etage stand Mr. Halbourg mit einer von Emmys älteren Schwestern vor einer offenen Tür, und beide starrten in ein Zimmer, in dem irgend etwas sie zu faszinieren und zugleich abzustoßen schien. In dem Zimmer rumpelte und ratterte etwas, gefolgt von fröhlichem Lachen.
Mr. Halbourg drehte sich um und sah Stefan erstaunt an. Er hatte den gleichen verstörten Gesichtsausdruck wie seine Frau.
»Vater, Gott sei Dank, dass Sie hier sind, wir wussten nicht, was wir tun sollten, wir wollten uns nicht lächerlich machen und jemanden zu Hilfe rufen, weil wir dachten, wenn dann jemand kommt, ist vielleicht gerade nichts zu sehen, aber jetzt, da Sie hier sind, bin ich doch sehr erleichtert.«
Stefan warf beunruhigt einen Blick über die Schwelle und sah ein typisches Mädchenzimmer: ein halbes Dutzend Teddybären; große Poster der momentanen Teenageridole - junge Männer, die Stefan überhaupt nicht kannte; ein hölzerner Hutständer mit einer Sammlung exotischer Kopfbedeckungen, die vermutlich von Trödlern stammten; Rollschuhe; ein Kassettenrecorder; eine Flöte in einem offenen Etui.
Emmys zweite Schwester stand im Zimmer, in Türnähe, bleich und wie gebannt. Emmy selbst stand im Pyjama auf ihrem Bett und sah noch gesünder als an Weihnachten aus. Sie hielt ein Kissen im Arm und lachte fröhlich über die erstaunliche Vorstellung, die ihre ganze Familie zwar faszinierte, aber noch viel mehr ängstigte.
Als Vater Wycazik ins Zimmer trat, kicherte Emmy begeistert über zwei kleine Teddybären, die mitten in der Luft Walzer tanzten. Sie bewegten sich fast so präzise wie richtige Tänzer. Die Bären waren jedoch nicht die einzigen Gegenstände, die wie durch Zauberei zum Leben erwacht waren. Die Rollschuhe standen nicht in einer Ecke, sondern bewegten sich auf verschiedenen Bahnen durch das Zimmer, der eine vom Bett zur Schranktür, der andere zum Schreibtisch und zum Fenster, einmal schnell, dann wieder langsam. Die Hüte wippten auf dem Ständer. Ein Bär auf einem Bücherregal hopste auf und ab.
Stefan wich vorsichtig den umhersausenden Rollschuhen aus und trat ans Fußende des Bettes heran; Emmy stand immer noch auf der Matratze.
»Emmy?«
Das Mädchen schaute zu ihm herunter. »Pudges Freund! Hallo, Vater! Ist das nicht herrlich? Ist es nicht toll?«
»Emmy, machst du das?« fragte er und deutete auf die lebendig gewordenen Gegenstände.
»Ich?« sagte sie überrascht. »O nein. Nicht ich.«
Aber ihm fiel auf, dass die tanzenden Bären aus dem Gleichgewicht kamen, als sie ihnen nicht mehr ihre Aufmerksamkeit schenkte. Sie fielen nicht zu Boden, aber sie torkelten umher, prallten gegeneinander und vollführten plumpe Bewegungen, die nichts mehr mit ihrem anmutigen Tanz von eben zu tun hatten.
Er sah auch Anzeichen dafür, dass nicht alles ganz komplikationslos verlaufen war. Eine Keramiklampe lag zerbrochen auf dem Boden. Eines der Poster war zerrissen. Der Spiegel am Toilettentisch hatte einen Sprung.
Emmy war seinem Blick gefolgt. »Anfangs hatte ich etwas Angst«, gab sie zu. »Aber jetzt hat sich alles beruhigt, und es macht Spaß. Ist das nicht ein Riesenspaß?«
Während sie noch redete, flog die Flöte aus dem offenen Etui heraus und segelte durch die Luft; in etwa zwei Meter Höhe kam sie dicht neben den schwebenden Teddybären zum Stehen.
Emmy hatte das emporsteigende Instrument aus dem Augenwinkel heraus gesehen. Als sie sich umdrehte und ihren Blick auf die Flöte richtete, ertönte daraus liebliche Musik keine zufälligen Töne, sondern eine richtige Melodie. Emmy hüpfte aufgeregt auf der Matratze auf und ab.
»Das ist >Annie's Song »Du spielst es auch jetzt«, sagte Stefan.
»O nein!« rief sie, während sie die Flöte nicht aus den Augen ließ. »Meine Hände wurden dann so schlimm, meine Fingergelenke vor allem, wissen Sie, dass ich vor einem Jahr aufhören musste zu spielen. Jetzt bin ich wieder gesund, aber meine Hände sind noch nicht ganz in Ordnung, und ich kann auch noch nicht Flöte spielen.«
»Du spielst nicht mit den Händen, Emmy!«
Endlich begriff sie, was er meinte. Sie starrte ihn fassungslos an.
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