Schwarzer Mond: Roman
weiter verbreiten.«
Leland ließ sich von diesem Argument nicht beeindrucken.
»Wir wissen nicht, wie diese Sache funktioniert. Vielleicht unterwirft sich die infizierte Person völlig dem Parasiten, wird zu dessen Sklaven. Oder -um auf Ihren Einwand einzugehen vielleicht besteht zwischen Wirt und Parasit eine positive Beziehung, vielleicht unterstützen sie sich gegenseitig -oder vielleicht weiß der Wirt auch gar nicht, dass der Parasit in ihm ist; das würde auch erklären, warum das Halbourg-Mädchen und die anderen nicht wissen, woher sie ihre Kraft haben. Aber wie dem auch immer sei -jedenfalls ist eine solche Person kein hundertprozentiger Mensch mehr. Und meiner Meinung nach kann man einer solchen Person nicht mehr trauen. Man kann ihr keinen Zentimeter weit über den Weg trauen! Sie müssen unverzüglich die ganze Familie Tolk in Gewahrsam nehmen und isolieren, Polnichev!«
»Ich sagte Ihnen doch schon, Colonel, dass das Haus der Tolks von Polizisten und Presseleuten umlagert ist. Wenn ich mit meinen Leuten reingehe und die Tolks vor den Augen einer Meute von Reportern verhafte, fliegt alles auf. Und obwohl ich nicht mehr an Nutzen und Sinn dieser Geheimhaltung glaube, werde ich sie dennoch nicht sabotieren. Ich kenne meine Pflicht.«
»Wird das Haus wenigstens von Ihren Leuten observiert?«
»Ja.«
»Und was ist mit den Mendozas? Wenn Tolk den Jungen infiziert hat, so wie Cronin offensichtlich ihn infiziert hat ...«
»Wir observieren auch die Mendozas. Aber wegen der Reporter können wir auch hier nichts unternehmen.«
Ein weiteres Problem war Vater Stefan Wycazik. Der Priester war in der Wohnung der Mendozas und bei den Halbourgs gewesen, noch bevor Polnichev überhaupt gewusst hatte, was sich an beiden Orten abspielte. Und später hatte ein FBI-Agent Vater Wycazik bei der Straßensperre in der Nähe von Sharkles Haus in Evanston gesehen, genau in dem Moment, als dort die Bombe detoniert war. Aber niemand wusste, wohin er danach verschwunden war. Seit fast sechs Stunden hatte ihn niemand mehr gesehen.
»Offenbar setzt er sich die Sache wie ein Puzzlespiel zusammen, fügt ein Teilchen nach dem anderen ein. Das ist ein zusätzlicher Grund, weshalb wir die Öffentlichkeit möglichst schnell selbst informieren sollten, bevor alles ohnehin auffliegt und wir in der Tinte sitzen.«
Leland Falkirk hatte plötzlich das Gefühl, dass alles völlig außer Kontrolle geriet, und das Atmen bereitete ihm Mühe, denn er hatte sein ganzes Leben der Philosophie und den Prinzipien der Kontrolle geweiht -unablässiger eiserner Kontrolle in allen Dingen.
Kontrolle war wichtiger als alles andere.
Als erstes kam die Selbstkontrolle. Man musste lernen, seine Wünsche und niedrigen Triebe fest unter Kontrolle zu halten; andernfalls riskierte man, von irgendeinem Laster -Alkohol, Drogen, Sex - zerstört zu werden. Das hatte er von seinen ultrareligiösen Eltern gelernt, die ihm diese Lektion schon eingetrichtert hatten, als er noch zu klein gewesen war, um zu verstehen, worum es eigentlich ging.
Und ebenso musste man auch seinen Intellekt unter Kontrolle halten: Man musste sich zwingen, stets auf die Logik und den Verstand zu bauen, denn der Mensch neigte dazu, irgendeinem Aberglauben zu verfallen, irgendwelche Verhaltensmuster zu akzeptieren, die auf irrationalen Annahmen beruhten. Diese Lektion hatte er trotz seiner Eltern gelernt, bei den Gottesdiensten der Pfingstler, als er erschrocken miterlebt hatte, wie sie sich in der Kirche oder im Erweckungszelt auf den Boden warfen, in Ekstase gerieten und kreischten; sie behaupteten, es wäre der Geist Gottes, der sie dazu hinriss, aber in Wirklichkeit war es natürlich nichts anderes als Massenhysterie.
Außerdem musste man seine Angst unter Kontrolle bekommen, wenn man nicht verrückt werden wollte. Er hatte sich selbst soweit gebracht, seine Angst vor den Eltern zu überwinden, die ihn in regelmäßigen Abständen bestraft und verprügelt hatten zu seinem eigenen Besten, weil sie den Teufel aus ihm austreiben müssten, wie sie stets behaupteten. Man konnte lernen, seine Angst unter Kontrolle zu bekommen, indem man sich selbst Schmerzen zufügte und auf diese Weise unempfindlicher wurde, denn man fürchtete sich nicht mehr vor etwas, wenn man sicher war, den damit verbundenen Schmerz ertragen zu können.
Kontrolle!
Leland Falkirk hatte sich, sein ganzes Leben, seine Männer und jeden Auftrag, den er erhielt, unter Kontrolle; aber nun war ihm plötzlich klar
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