Schwarzer Mond: Roman
denn das Pflaster war völlig schneefrei, und von der Oberfläche stieg Dampf auf.
Wenn in den nächsten Minuten Besucher ins Depot kamen oder die Wachen Schichtwechsel hatten, würde ihr Spiel verloren sein. Dom, Jack und sie könnten sich zwar flach in den Schnee legen und sich auf diese Weise verstecken, aber ihre frischen Fußspuren würden sie verraten, denn bei ihrer Ankunft war die Schneedecke in der Umgebung der kleineren Tür völlig glatt und unberührt gewesen. Sie mussten so schnell wie möglich ins Innere des Depots eindringen - falls das überhaupt möglich war.
Die kleinere Tür sah kaum weniger abschreckend aus als das riesige Portal, aber Jack schien davon unbeeindruckt zu sein. Er hatte einen aktenkoffergroßen Computer namens SLICKS dabei, und obwohl Ginger vergessen hatte, was diese Abkürzung bedeutete, so wusste sie doch noch, dass es ein Gerät war, mit dem man elektronische Schlösser verschiedener Art öffnen konnte, und dass es im freien Handel nicht erhältlich war. Sie hatte Jack nicht gefragt, auf welche Weise er dieses nützliche Ding erworben hatte.
Sie arbeiteten schweigend.
Gingers Aufgabe war es, nach Schweinwerfern auf der Straße vom Eingangstor Ausschau zu halten und auch die verschneite Wiese im Auge zu behalten, für den Fall, dass wider Erwarten doch eine Patrouille auftauchen würde.
Dom hielt eine Taschenlampe auf die zehnziffrige Codeplatte gerichtet, die dem Schlüsselloch einer normalen Tür entsprach, während Jack mit den Messfühlern des SLICKS nach der richtigen Ziffernfolge suchte.
Auf einem Knie im Schnee zusammengeduckt, rechnete Ginger jeden Moment mit Entdeckung; sie fühlte sich hilflos, und wesentlich mehr als nur die räumliche Entfernung von viertausend Kilometern schien sie von ihrem Leben in Boston zu trennen. Der Wind blies ihr direkt ins Gesicht. Geschmolzener Schnee tropfte ihr von den langen Wimpern in die Augen. Was für eine absurde Situation. Meschugge. Dass ein unschuldiger Mensch zu solchen Handlungen getrieben werden konnte!
Was glaubte dieser verdammte Colonel Falkirk eigentlich, wer er war? Und die Leute, von denen er seine Befehle erhielt - was glaubten sie, wer sie waren?
Richtige momzers, das waren sie allesamt. Sie dachte an Falkirks Foto in der Zeitung: Sie hatte sofort gewusst, dass er ein treyfnyak war, eine Person, der man niemals über den Weg trauen durfte, keinen Zentimeter weit. Aber sie wusste auch noch etwas anderes: Wann immer ihr jiddische Ausdrücke in den Sinn kamen, war sie in irgendwelchen großen Schwierigkeiten oder hatte Angst.
Knapp vier Minuten nachdem Jack sich an die Arbeit gemacht hatte, zuckte Ginger erschrocken zusammen, als sie hinter sich ein zischendes Geräusch hörte. Sie drehte sich um und sah, dass die Tür bereits in ihre Vertiefung geglitten war. Dom taumelte überrascht rückwärts. Jack landete auf seinem Gesäß. Während Ginger ihm beim Aufstehen half, zeigte er ihr, dass die Tür sich so plötzlich und mit solcher Wucht geöffnet hatte, dass ihm keine Zeit mehr geblieben war, den Messfühler des SLICKS aus dem Mechanismus herauszuziehen; der Fühler war aus dem Computer einfach herausgerissen worden.
Aber die Tür stand offen, und ohne dass ein Alarm ausgelöst worden wäre. Vor ihnen lag ein betonierter Tunnel, etwa vier Meter lang und drei Meter breit, der von Leuchtstoffröhren hell beleuchtet war und zu einer zweiten Tür führte.
»Bleibt hier«, sagte Jack und betrat vorsichtig den Tunnel.
Ginger stand neben Dom, und obwohl sie wusste, dass ihre Geiselnahme zum Plan gehörte, wusste sie auch, dass sie beim ersten Anzeichen von Gefahr instinktiv wegrennen würde. Dom schien ihre Gedanken gelesen zu haben, denn er legte schützend seinen Arm um sie.
Nach einer endlos langen Minute, als immer noch keine Alarmglocken oder Sirenen die Stille der Nacht zerrissen, trat Jack wieder zu ihnen in den Sturm hinaus. »Zwei Überwachungskameras an der Tunneldecke ...«
»Haben sie dich erfasst?« fragte Dom.
»Nein, ich glaube nicht, denn sie haben meine Bewegungen nicht registriert. Ich nehme an, dass man die äußere Tür schließen muss, um die innere öffnen zu können, und sobald man sie schließt, schalten sich die Kameras ein. Entlang der Beleuchtungskörper sind außerdem Gasröhren angebracht. Die Sache funktioniert vermutlich folgendermaßen - man schließt die Außentür, die Kameras betrachten einen, und falls ihnen nicht gefällt, was sie sehen, strömt sofort irgendein Gas in den
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