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Schwarzer Mond: Roman

Schwarzer Mond: Roman

Titel: Schwarzer Mond: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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konnte.
    Ginger hatte noch stundenlange Arbeit vor sich, aber sie verspürte auch keine Müdigkeit. Sie schlug die grünen Tücher zurück, enthüllte die Oberschenkel der Patientin. Mit Hilfe der Laufschwester hatte Agatha das Tablett mit Instrumenten aufgefüllt, so dass sie nun alles zur Hand hatte, was Ginger brauchte, um zwei weitere Einschnitte zu machen, direkt unterhalb der Leistenfalte, am Beinansatz. Wieder klemmte und band sie Blutgefäße ab, bis sie schließlich die Oberschenkelarterien freigelegt hatte. Wie zuvor bei der Aorta, so unterbrach sie auch hier den Blutstrom und öffnete sodann beide Schlagadern, um dort später die Enden des in zwei Teile verzweigten Dacron-Schlauches befestigen zu können. Mehrmals ertappte sie sich dabei, dass sie glücklich zur Musik mitsummte, und die Arbeit ging ihr jetzt so leicht von der Hand, dass man hätte glauben können, sie wäre in einem früheren Leben schon einmal Chirurgin gewesen und wäre deshalb für diesen Beruf prädestiniert.
    Aber sie hätte sich an ihren Vater und seine Aphorismen erinnern sollen, an die weisen Aussprüche, die er gesammelt und mit deren Hilfe er sie geduldig belehrt oder freundlich ermahnt hatte, wenn sie sich - was allerdings selten vorgekommen war schlecht benommen oder in der Schule nicht ihr Bestes gegeben hatte. Entflohener Augenblick kommt nie zurück; Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott; Sparschaft bringt Barschaft; Eigennutz erwürgt auch den Freund; Besser schlichten als richten; Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu ... Er hatte Tausende davon gekannt, aber kein Sprichwort hatte er mehr geliebt und häufiger wiederholt als folgendes: Hochmut kommt vor dem Fall.
    Sie hätte sich an diese fünf Wörter erinnern sollen. Die Operation verlief so glatt, und sie war über ihre Leistung so glücklich, so stolz auf diesen ersten völlig selbständig ausgeführten komplizierten Eingriff, dass sie den unvermeidlichen >Fall< völlig vergaß.
    Sie wandte sich jetzt wieder dem Unterleib zu, löste die Klammern vom unteren Ende des Dacron-Schlauches, spülte ihn aus und führte seine beiden Äste unter dem Fleisch der Lenden, unter den Leistenfalten entlang, zu den Einschnitten in den Oberschenkelarterien, wo sie genäht wurden. Sodann löste sie die restlichen Klammern und verfolgte begeistert, wie die Blutzirkulation in der geflickten Aorta wieder in Gang kam. Zwanzig Minuten lang suchte sie nach winzigen undichten Stellen und stopfte sie mit dünnem aber starkem Faden. Dann beobachtete sie weitere fünf Minuten aufmerksam die Funktionsfähigkeit des Schlauches. Er pulsierte genau wie eine natürliche gesunde Arterie, ohne Anzeichen einer Durchlässigkeit.
    Schließlich sagte sie: »Wir können jetzt nähen.«
    »Großartige Arbeit!« lobte George.
    Ginger war froh, dass sie eine Operationsmaske trug, denn ihr Gesicht verzog sich unwillkürlich zu einem breiten Lächeln, so dass sie wie der sprichwörtliche grinsende Idiot aussehen musste. Sie vernähte die Einschnitte an den Beinansätzen. Sie nahm die Eingeweide von den Schwestern entgegen, die sichtlich erschöpft und überglücklich waren, endlich davon befreit zu werden. Sie legte die Därme wieder an Ort und Stelle und tastete sie noch einmal ab, fand aber auch diesmal nichts, was auf eine Krankheit hingewiesen hätte. Der Rest war einfach: Sie vernähte eine Schicht nach der anderen - Muskeln und Unterhautbindegewebe
    -und schloss schließlich den Hautschnitt mit dickerem schwarzem Faden.
    Die Narkoseschwester legte nun Viola Fletchers Kopf frei.
    Der Anästhesist nahm ihr die Augenbinde ab, stellte die Zufuhr des Narkotikums ein.
    Die Assistenzschwester schaltete den Kassettenrecorder aus.
    Ginger betrachtete Mrs. Fletchers bleiches Gesicht, auf dem noch die Atemmaske lag. Sie enthielt jetzt jedoch nur eine Sauerstoffmischung.
    Die Schwestern verließen den Operationstisch und zogen ihre Gummihandschuhe aus.
    Viola Fletchers Lider flatterten. Sie stöhnte.
    »Mrs. Fletcher?« sagte der Anästhesist laut.
    Die Patientin reagierte nicht.
    »Viola?« rief Ginger. »Können Sie mich hören, Viola?«
    Die Augen der Frau blieben geschlossen, aber obwohl sie noch nicht richtig erwacht war, bewegten sich ihre Lippen, und sie murmelte undeutlich: »Ja, Doktor.«
    Ginger nahm die Glückwünsche des Operationsteams entgegen und verließ mit George den Saal. Während sie ihre Handschuhe auszogen und die Mützen und Gesichtsmasken abnahmen, hatte Ginger das

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