Schwarzer Mond: Roman
Selbstvertrauen doch nicht völlig zerstört. Sie hatte sich nach dem letzten Anfall stets ausgezeichnet gefühlt: stark, tatkräftig, voll aufnahmefähig. Wenn sie an sich auch nur die geringste Geistesabwesenheit oder Müdigkeit wahrgenommen hätte, hätte sie es abgelehnt zu operieren.
Andererseits hatte sie schließlich nicht jahrelang sieben Tage pro Woche gearbeitet und sich alle möglichen Fachkenntnisse angeeignet, nur um ihre ganze Zukunft wegen zweier untypischer Momente stressbedingter Hysterie auf Spiel zu setzen. Alles würde gutgehen. Es konnte gar nicht anders sein.
Die Wanduhr zeigte 7.42 Uhr an. Es wurde Zeit, mit der Operation zu beginnen.
Sie machte den ersten Schnitt. Mit Hilfe von Pinzetten, Scheren und Klammern durchtrennte sie geschickt das Gewebe, stellte eine Art Schacht durch Haut, Fett und Muskeln her. Bald war der Einschnitt groß genug, um ihre beiden Hände aufnehmen zu können und auch die ihres Assistenten George Hannaby, falls sie seine Hilfe benötigen sollte. Auf beiden Seiten des Operationstisches trat eine Schwester dicht heran und hielt den Einschnitt mit Hilfe von Muskelhaken offen.
Agatha Tandy wischte mit einem weichen, saugfähigen Tuch Gingers Stirn ab.
In Georges Augen über der Maske trat ein Lächeln. Er schwitzte nicht. Das passierte ihm nur selten.
Ginger band rasch die Blutgefäße ab und versetzte Klammern, Agatha forderte bei der Laufschwester neue Vorräte an.
In den kurzen Pausen zwischen Bachs Concerti waren die lautesten Geräusche im gekachelten Operationssaal das zischende Ausatmen und das stöhnende Einatmen der künstlichen Herz-Lungen-Maschine, die anstelle von Viola Fletcher atmete. Diese Geräusche hatten, obwohl sie rein mechanisch erzeugt wurden, etwas Quälendes an sich, das es Ginger unmöglich machte, ihre Ängste zu überwinden.
An anderen Tagen, wenn George operierte, wurde mehr gesprochen. Er machte ab und zu scherzhafte Bemerkungen zu den Schwestern und zum Assistenzarzt, um die Spannung zu verringern, ohne dadurch jedoch auch nur im geringsten die Konzentration auf die Arbeit zu verringern. Ginger war zu solchem Geplauder einfach nicht imstande; sie bewunderte Georges diesbezügliches Talent, das in ihren Augen der Fähigkeit gleichkam, gleichzeitig Basketball zu spielen, Kaugummi zu kauen und schwierige mathematische Probleme zu lösen.
Nachdem sie in die Tiefe des Bauches vorgedrungen war, tastete sie mit beiden Händen den Dickdarm ab und befand ihn für gesund. Mit feuchten Gazetupfern hob Ginger die Eingeweide etwas an; die Schwestern hatten nun die Aufgabe, mit Hilfe von Haken die Därme beiseitezuhalten. Nun lag die Aorta frei, die Hauptleitung des Arteriensystems.
Von der Brust aus führte die Aorta parallel zum Rückgrat durch das Diaphragma in den Bauch. Unmittelbar über den Leisten teilte sie sich in zwei Hüftschlagadern auf, die zu den Oberschenkelarterien führten.
»Da ist es«, sagte Ginger. »Ein Aneurysma. Genau wie auf den Röntgenaufnahmen.« Gleichsam zur Bestätigung warf sie einen Blick auf die Röntgenbilder der Patientin, die auf dem Bildschirm am Fußende des Operationstisches befestigt waren.
»Ein sich zergliederndes Aneurysma direkt über dem Aortasattel.«
Agatha wischte Gingers Stirn ab.
Das Aneurysma, eine schlaffe Stelle in der Aortawand, hatte es der Arterie erlaubt, sich auf beiden Seiten auszuweiten und eine sackförmige Ausbuchtung zu bilden, die mit Blut gefüllt war und wie ein zweites Herz schlug. Das erzeugte Schwierigkeiten beim Schlucken, äußerste Kurzatmigkeit, schwere Hustenanfälle und Brustschmerzen, und wenn dieses aufgequollene Gefäß platzte, so hätte das den Tod zur Folge.
Während Ginger das pulsierende Aneurysma betrachtete, überkam sie ein fast religiöses Andachtsgefühl, eine tiefe Ehrfurcht, so als wäre sie aus der realen Welt in eine mystische Sphäre getreten, so als würde ihr bald das Mysterium des Lebens offenbart werden. Dieses Gefühl von Macht und Transzendenz erwuchs aus der Erkenntnis, dass sie den Kampf mit dem Tod aufnehmen -und ihn besiegen konnte. Dort lag der Tod schon auf der Lauer, im Körper ihrer Patientin, in Form des pulsierenden Aneurysmas, aber sie hatte durch ihr Wissen und ihre Geschicklichkeit die Möglichkeit, den Tod zu bannen.
Agatha Tandy hatte aus einer sterilen Verpackung ein Stück künstlicher Aorta geholt -einen dicken Schlauch mit ziehharmonikaförmigen Falten, der sich in zwei schmälere Schläuche, die Hüftschlagadern, aufteilte.
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