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Schwarzer Mond: Roman

Schwarzer Mond: Roman

Titel: Schwarzer Mond: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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Gefühl, mit Helium angefüllt zu sein, gleich die Schwerkraft überwinden und schweben zu können.
    Aber mit jedem Schritt zu den Waschbecken in der Vorhalle nahm dieses Hochgefühl ab. Schlagartig machte sich die Erschöpfung bemerkbar. Nacken, Schultern und Rücken schmerzten wahnsinnig. Ihre Beine waren steif, und ihre Füße brannten.
    »Mein Gott«, sagte sie, »ich bin total geschafft!«
    »Kein Wunder«, erwiderte George. »Sie haben um halb acht angefangen, und jetzt ist die Mittagszeit schon vorbei. Die Implantation eines künstlichen Aortenstücks ist verdammt anstrengend.«
    »Sind Sie denn hinterher auch erschöpft?«
    »Selbstverständlich.«
    »Aber die Müdigkeit überfiel mich so plötzlich. Da drin fühlte ich mich großartig. Ich hätte stundenlang weitermachen können.«
    »Da drin«, erklärte George amüsiert, »waren Sie göttergleich.
    Sie fochten ein Duell mit dem Tod aus und gewannen es. Gö tter ermüden nicht. Dazu macht diese Art von Arbeit viel zuviel Spaß.«
    An den Waschbecken ließen sie das Wasser laufen, zogen ihre Operationskittel aus und rissen Seifepackungen auf.
    Als Ginger ihre Hände zu schrubben begann, lehnte sie sich müde ans Becken und beugte sich etwas vor, so dass sie genau in den Abfluss blickte, wo das Wasser um das Stahlsieb strudelte und Seifenblasen umherwirbelten, bevor alles im Rohr verschwand ... neue Strudel und immer neue wirbelten umher, wurden vom Rohr verschlungen ... neue und immer neue ...
    Diesmal wurde sie von der irrationalen Angst noch plötzlicher überwältigt als in Bernsteins Delikatessengeschäft und in Georges Büro, fast ohne Vorwarnung. Von einem Moment zum anderen wurde ihre Aufmerksamkeit völlig von dem Abfluss in Anspruch genommen, der immer größer zu werden schien, so als hätte er sich in ein bösartiges Monster verwandelt.
    Sie ließ die Seife fallen und sprang mit einem entsetzten Schrei vom Waschbecken zurück, stieß mit Agatha Tandy zusammen, schrie wieder auf. Sie hörte verschwommen, dass George ihren Namen rief. Aber der Chirurg verblasste wie ein Bild auf der Filmleinwand, er verschwamm wie in Wolken oder in dichtem Nebel, er hörte auf, real zu sein. Auch Agatha Tandy und die ganze Vorhalle und die Türen zum Operationssaal verblassten, verschwammen. Alles löste sich auf, nur das Waschbecken wurde immer größer und massiver, es wurde zur einzigen Realität. Sie hatte ein Gefühl tödlicher Bedrohung. Aber es war doch nur ein ganz gewöhnliches Waschbecken, um Go ttes willen, sie musste an dieser Erkenntnis festhalten, musste sich an diesen Felsen der Realität klammern und den Kräften Widerstand leisten, die sie in den Wahnsinn treiben wollten. Nur ein Waschbecken. Nur ein ganz gewöhnlicher Abfluss. Nur ...
    Sie rannte. Der Nebel schloss sich von allen Seiten um sie, und sie verlor jedes bewusste Wahrnehmungsvermögen für ihre Handlungen.
    Als erstes nahm sie den Schnee wahr. Große weiße Flocken flogen an ihrem Gesicht vorbei, schwebten träge dem Boden zu wie flaumiger Löwenzahnsamen, denn es war windstill. Sie hob den Kopf und ließ ihre Blicke über die ringsum emporragenden Mauern der alten, hohen Gebäude nach oben schweifen, bis sie schließlich ein rechteckiges Stück grauen Himmels entdeckte; der Schnee rieselte aus tiefhängenden Wolken herab. Während sie so in den Winterhimmel starrte und sich verwirrt fragte, wie sie überhaupt hierher ins Freie gekommen war, bedeckten sich ihre Haare und Augenbrauen mit weißen Flocken. Schnee schmolz auf ihrem Gesicht, aber allmählich stellte sie fest, dass ihre Wangen schon feucht von Tränen waren, dass sie immer noch still vor sich hin weinte.
    Nun begann sie auch die Kälte zu spüren. Obwohl es windstill war, hatte die Luft doch scharfe Zähne und biss sie in Wangen, Kinn und Nase; ihre Hände waren taub vom kalten Gift unzähliger Bisse. Der Frost durchdrang ihre grüne Arztkleidung, und sie zitterte nun am ganzen Leibe.
    Als nächstes nahm sie den eisigen Beton unter sich und die kalte Ziegelmauer an ihrem Rücken wahr. Sie saß in eine Ecke gekauert da, die Knie bis zum Kinn hochgezogen, die Arme um die Beine gepresst - eine schutzsuchende, angsterfüllte Haltung. Beton und Ziegel zehrten an ihrer Körperwärme, aber sie hatte nicht die Kraft, aufzustehen und ins Haus zu gehen.
    Sie erinnerte sich daran, wie sie förmlich hypnotisiert auf den Ablauf des Waschbeckens gestarrt hatte. In völliger Verzweiflung rief sie sich ihre grundlose Panik ins Gedächtnis,

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