Schwarzer Mond: Roman
sich etwas Chivas Regal ein. Mit zitternder Hand schob er die
Tablette in den Mund, spülte sie mit Chivas hinunter und begab sich wieder ins Bett.
Er sagte sich, dass sein Zustand sich allmählich besserte, dass das Schlafwandeln bald völlig aufhören würde. In einer Woche würde er wieder normal sein. In einem Monat würde ihm das alles wie eine sonderbare Verirrung vorkommen, und er würde sich fragen, wie sie überhaupt solche Macht über ihn hatte gewinnen können.
Allmählich schaltete sich sein Bewusstsein aus. Es war ein angenehmes Gefühl, sanft in den Schlaf zu gleiten. Aber plötzlich hörte er sich im dunklen Schlafzimmer etwas murmeln, etwas so Merkwürdiges, dass er trotz Schlaftablette und Whisky interessiert aufhorchte.
»Der Mond«, flüsterte er mit belegter Stimme. »Der Mond, der Mond.«
Er fragte sich, was er damit meinen konnte, und er versuchte, dem Schlaf zu entrinnen, um über seine Worte nachzudenken. Der Mond?
»Der Mond«, flüsterte er wieder, und dann überwältigte ihn der Schlaf.
Es war 3.11 Uhr am Sonntag, dem 8. Dezember.
6. New York, New York
Fünf Tage, nachdem er die >fratellanza< um mehr als drei Millionen Dollar erleichtert hatte, besuchte Jack Twist eine tote Frau, die noch atmete.
Am Sonntagmittag um eins stellte er seinen Camaro im unterirdischen Parkhaus des Privatsanatoriums ab, das sehr vornehm an der East Side gelegen war, und fuhr mit dem Lift in die Empfangshalle hinauf, wo er sich eintrug und einen Besucherpass erhielt.
Nichts deutete darauf hin, dass dies ein Krankenhaus war. Die Halle war -passend zur Bauepoche des Gebäudes geschmackvoll im Art-Deco-Stil eingerichtet. Zwei kleine Gemälde - echte Ertes - schmückten die Wände, und alle Möbel Sofas, Tische mit ordentlich gestapelten Zeitschriften, ein Lehnstuhl -stammten aus den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts.
Es war übertrieben luxuriös. Die Ertes waren völlig überflüssig. An vielem anderen wurde gespart, wo es nur möglich war.
Aber die Manager des Sanatoriums legten großen Wert auf dieses gepflegte Image, das die Leute mit viel Geld beeindruckte und so einen jährlichen Profit von etwa hundert Prozent abwarf. Die Patienten waren sehr verschieden - da gab es katatonische Schizophrene mittleren Alters, autistische Kinder, junge und alte Menschen, die seit langem im Koma lagen - aber zweierlei hatten sie alle gemeinsam: Ihre Leiden waren chronisch, und sie stammten aus reichen Familien, die sich die bestmögliche Pflege leisten konnten.
Jedesmal, wenn Jack darüber nachdachte, packte ihn die Wut, dass es in der ganzen riesigen Stadt keinen Ort gab, der den Menschen mit katastrophalen Gehirnschäden oder Geisteskrankheiten eine gute Pflege zu vernünftigen Preisen ermöglichte. Trotz der enormen Zuschüsse aus Steuergeldern waren die staatlichen Institutionen New Yorks -wie sämtliche öffentliche Einrichtungen in aller Welt - ein schlechter Witz, mit dem sich der Durchschnittsbürger indessen abfinden musste, weil er einfach keine Alternative hatte.
Wenn Jack nicht ein so überaus geschickter und erfolgreicher Dieb gewesen wäre, hätte er die fantastischen Summen, die das Sanatorium jeden Monat kostete, niemals aufbringen können.
Zum Glück hatte er ein Talent für Diebstahl.
Mit dem Besucherpass in der Hand ging er zum Aufzug und fuhr ins dritte der insgesamt fünf Stockwerke hinauf. Die Korridore der oberen Etagen verbreiteten im Gegensatz zur Empfangshalle eine typische Krankenhausatmosphäre. Leuchtstoffröhren. Weiße Wände. Der leichte Geruch nach Desinfektionsmitteln.
Ganz am Ende des Korridors, im letzten Zimmer auf der rechten Seite, lebte die tote Frau, die noch atmete. Jack legte seine Hand auf den Knopf der schweren Schwingtür, zögerte etwas, holte tief Luft und drückte die Tür auf.
Das Zimmer war nicht so luxuriös wie die Empfangshalle; es war nicht im Art-Deco-Stil eingerichtet, aber es war sehr hübsch, hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem Zimmer mittlerer Preislage im Plaza: eine hohe Decke mit weißen Ornamenten; ein Kamin mit weißer Umrandung; ein dicker jägergrüner Teppich; hellgrüne Vorhänge; ein Sofa und zwei Sessel mit grünem Blattmuster. Man vertrat hier die Theorie, dass der Patient sich in einem Raum wie diesem wohler fühlen würde als in einem typischen Krankenhauszimmer. Obwohl viele Patienten ihre Umgebung überhaupt nicht wahrnahmen, so linderte diese behagliche Atmosphäre doch das Unbehagen der Freunde und Verwandten, die zu Besuch
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