Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)
vereinnahmt wird, das in den letzten zweihundert Jahren sein hässliches Haupt erhoben hat. Wenn für den legendären Bürgermeister Dick Whittington eine Oligarchie in Ordnung war, so ihr Argument, dann wird wohl auch das London des einundzwanzigsten Jahrhunderts damit klarkommen. In China funktioniert’s doch auch.
Der Corporation unterstehen auch die alten Archive des London County Council, die in einem nüchternen, aber nichtsdestotrotz eleganten Art-déco-Gebäude aufbewahrt werden. Ich zeigte einer der Archivarinnen meinen Dienstausweis, und sie stellte mir eine Liste von Dokumenten zusammen und erklärte mir, wie man bestellte.
Außerdem bot sie an, dass sie im digitalen Archiv nachschauen könnte, ob es Bilder gab. »Ist es ein alter Fall?«, fragte sie.
»Steinalt.«
Als Erstes kam Position LCC/CE/4 / 7 aus dem Lagerraum, ein Karton voller Faltmappen, die mit schmutzigweißenBändern zugebunden waren. Ich suchte Nr. 39 heraus, den Bericht vom 8. März 1941. Die Nummer war von Hand mit schwarzer Tinte daraufgeschrieben worden. Ich schnürte die Mappe auf. Der Bericht stand in lila Schrift auf blassgelbem Papier, ein sicheres Zeichen, meinte die Archivarin, dass er mit einem Mimeographen vervielfältigt worden war. Er war mit GEHEIM überschrieben und trug das Datum 9. März 1941, LAGEBERICHT UM 0600 UHR. Es folgte eine Aufzählung von Schäden an Fabriken, Eisenbahnlinien, Fernmeldestationen, Stromversorgungseinrichtungen, Docks, Straßen, Krankenhäusern und öffentlichen Gebäuden. Das St.-Thomas-Kinderkrankenhaus in Lambeth war getroffen worden, aber es war niemand verletzt worden. Ich war seltsam erleichtert, als ich das las – dabei war das schon bei meiner Geburt ein halbes Jahrhundert her gewesen. In der Mitte der dritten Seite fand ich, was ich suchte.
2140. Sprengbombe, Café de Paris, Coventry Street. 34 Tote, ca. 80 Schwerverletzte.
Während ich auf die restlichen Dokumente wartete, rief mich die Archivarin zum Infostand, weil sie tatsächlich ein paar Fotos gefunden hatte. Die meisten stammten aus der
Daily Mail
– die musste einen Fotografen hingeschickt haben, kaum dass die Bombe gefallen war. In Schwarzweiß sah alles seltsam blutleer aus, und erst wenn einem klar wurde, dass der hellgraue Schlauch, der unter einem Tisch herausragte, der Unterarm einer Frau war, begriff man, dass man ein Massaker vor sich hatte. Es gab noch weitere sechs Bilder vom Innern des Nachtclubs und einige vonVerletzten bei ihrer Ankunft im Charing Cross Hospital – bleiche, wie betäubte Gesichter zwischen weißen Decken und der primitiven Einrichtung eines Krankenhauses zu Kriegszeiten.
Fast wäre ich achtlos darüber hinweggegangen, aber irgendwas regte sich in meinem Gedächtnis, und ich klickte zurück und sah es mir genauer an.
Es war ein verwirrendes Bild, unmöglich auszumachen, wo es aufgenommen worden war, vielleicht in der Haltezone eines Rettungswagens. Eine Gruppe Frauen wurde an der Kamera vorbeigeführt, alle bis auf eine gebeugt und in Decken gewickelt. Ein Gesicht starrte direkt in die Kamera, ein glattes bleiches Oval, dem der Schock jeden Ausdruck geraubt hatte. Ich erkannte es. Zuletzt hatte ich es in der Nacht, als Mickey the Bone gestorben war, im Hinterzimmer des Mysterioso gesehen. Sie hatte sich Peggy genannt.
Ich fragte mich, ob das ihr richtiger Name war.
Das Café de Paris lag fast sieben Meter unter der Erdoberfläche und hatte bei Betreibern wie Gästen gleichermaßen als sicher gegolten. Falls man nicht gerade in einem U-Bahnhof Schutz suchte, gab es in London keine zivile Zufluchtsmöglichkeit, die auch nur annähernd so tief lag. Später kam heraus, dass das Gebäude über dem Nachtclub von zwei Bomben getroffen worden war; die eine war ein Blindgänger, die andere fiel durch einen Belüftungsschacht, detonierte genau vor der Band und tötete sämtliche Musiker und den Großteil der Tanzenden. Ken Johnson wurde der Kopf sauber von den Schultern getrennt, und man erzählte sich, einige Gäste hätten noch im Tod aufrecht am Tisch gesessen. Nach Augenzeugenberichten waren in jener Nacht viele kanadische Soldaten und Krankenschwestern im Club, aber obwohl mich die Archivarin sogar in die Lagerräume begleitete, fand ich nichts, was nach einer Liste der Opfer aussah. Nur einige seidenpapierdünne Durchschläge einer Korrespondenz, die sich mit Beschwerden auseinandersetzte, die Rettungskräfte seien nicht schnell genug vor Ort
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