Schwarzer Mond über Soho: Roman (German Edition)
nachgewiesen werden konnte, dass die Vampire über zweihundert Jahre alt waren.«
Als guter Wissenschaftler war Dr. Walid keineswegs bereit, sich auf das Wort eines Naturphilosophen aus dem 19. Jahrhundert zu verlassen, aber er gab zu, alles deute darauf hin, dass das eine Möglichkeit sein könnte. Also, man sollte wirklich meinen, ein Kryptopathologe wäre leichtgläubiger. Ich würde mir meine wunderbar perfekte Theorie jedenfalls nicht von solchem zögerlichen Skeptizismus vermiesen lassen.
»Sagen wir mal nur für den Moment, ich habe recht.Ist es möglich, dass alle Wesen, die übernatürlich lange leben – die
Genii locorum
, Nightingale, Molly, die Vampire – könnte es nicht sein, dass sie Magie aus ihrer Umwelt aufnehmen, um nicht zu altern?«
»Das Leben versteht sich zu schützen«, sagte Dr. Walid. »Soweit wir wissen, sind Vampire die einzigen Wesen, die Leben – oder Magie, oder was auch immer – anderen Lebewesen direkt entziehen können.«
»Genau«, sagte ich. »Lassen wir mal die
Genii locorum
, Molly und die anderen Kuriositäten außer Acht und konzentrieren uns auf die Vampire. Wäre es möglich, dass es ein vampirartiges Wesen gibt, das seine Energie aus Musikern zieht – dass diese in dem Moment, wo sie spielen, besonders schutzlos sind?«
»Sie glauben, dass es Vampire gibt, die sich von Jazz ernähren?«
»Warum nicht?«
»Jazzvampire?«
»Wenn’s watschelt wie eine Ente und quakt wie eine Ente …«
»Warum ausgerechnet Jazz?«
»Keine Ahnung.« Mein Dad hätte eine Antwort darauf gehabt. Er hätte gesagt, weil nur Jazz richtige Musik ist. »Man könnte wahrscheinlich Musiker verschiedener Stilrichtungen nehmen, sie mit unserem Vampir zusammenbringen und schauen, welcher einen Gehirnschaden abkriegt.«
»Ich bin nicht sicher, ob das den nationalen ethischen Richtlinien für medizinische Experimente entsprechen würde. Abgesehen von dem Problem, Freiwillige als Versuchskaninchen zu rekrutieren.«
»Ach, ich weiß nicht. Es sind Musiker. Wenn man ihnen ein kleines Pauschalhonorar anbietet? Oder Freibier?«
»Also ist das Ihre Hypothese dafür, was mit Cyrus Wilkinson passiert ist?«
»Mehr. Ich glaube, ich könnte auf eine Art auslösendes Ereignis gestoßen sein.« Ich erzählte von Peggy, Snakehips Johnson und dem Café de Paris, und je länger ich redete, desto dürftiger klang es in meinen eigenen Ohren.
Währenddessen trank Dr. Walid seinen Tee aus.
»Wir müssen diese Peggy finden«, schloss ich.
»Ja, das sehe ich auch so«, sagte er.
Ich hatte nicht viel Lust auf Datenerfassung, und Lesley ging immer noch nicht ans Telefon. Also bastelte ich aus der Aufnahme von 1941 ein Porträt von Peggy in möglichst hoher Auflösung und druckte es mit meinem Laserdrucker ein halbes Dutzend Mal aus. Damit bewaffnet ging ich nach Soho, um zu sehen, ob es dort jemanden gab, der sie erkannte. Anfangen würde ich mit Alexander Smith. Schließlich waren Peggy und Bellrush eine seiner Hauptattraktionen.
Wenn Smith nicht Aufsicht darüber führte, wie Frauen auf ironisch postmoderne Weise ihre Kleider ablegten, residierte er in einem kleinen Büro an der Greek Street über einem Ex-Sexshop, der die Verwandlung zum Café vollzogen hatte. Ich klingelte. Die Sprechanlage fragte, wer ich sei.
»PC Grant für Alexander Smith.«
»Bitte noch mal, wer?«
»PC Grant.«
»Was?«
»Polizei. Machen Sie endlich die verdammte Tür auf.«
Die Tür summte, und ich betrat die nächste enge Sohoer Mietshaustreppe mit verschlissenem Nylonteppich und Handabdrücken an der Wand. Am oberen Ende wartete ein Mann auf mich. Von unten kam er mir ganz normal vor, aber wie eine von diesen abgefahrenen optischen Täuschungen schien er größer und größer zu werden, je weiter ich nach oben kam. Als ich bei ihm ankam, war er einen halben Kopf größer als ich und füllte fast die ganze Breite des Flurs aus. Er trug ein marineblaues Angeberjackett und darunter ein schwarzes Led-Zeppelin- T-Shirt ; so etwas wie einen Hals schien er nicht zu besitzen, dafür aber garantiert einen Totschläger irgendwo im Ärmel. Als ich in seine haarigen Nüstern hinaufblickte, wurde ich ein bisschen nostalgisch. Solche Gorillas der alten Schule findet man in London kaum noch. Heutzutage sind das alles windhundartige weiße Typen mit irrem Blick und Kapuzenshirts. Das hier war ein Gangster, den auch mein Dad sofort als solchen erkannt hätte, und am liebsten hätte ich ihn dafür umarmt
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