Schwarzer Neckar
Zwei weitere Teams waren in Bereitschaft, aber auch deren Rückkehr vermochte der Einsatzleiter nur ungefähr zu bestimmen. Es würde mindestens eine halbe Stunde dauern – zu lange, um zu warten. Dann eben mit dem Taxi.
Doch nach einem Blick durch das Fenster verwarf Melchior diesen Gedanken sofort wieder. Hunderte Autos schoben sich Stoßstange an Stoßstange über die winterlichen Straßen. Vermutlich wartete sie länger auf ein Taxi als auf die Kollegen der Bereitschaft.
Es blieb nur noch eine Möglichkeit: Sie musste laufen. Drei Kilometer – etwas mehr als eine Viertelstunde, schätzte sie. Melchior hastete die Treppen hinunter und trat vor die Tür der Polizeidirektion.
Eiseskälte schlug ihr entgegen. Sie zog ihre Mütze tiefer ins Gesicht, schaute sich kurz um und rannte los.
***
Die Tür auf der rechten Seite des Treppenabsatzes, direkt unter Amstetters Wohnung, trug das Namensschild »M. Holzmann«. Sie lag nur angelehnt im Rahmen, und aus der Wohnung dahinter drang ein Lichtschein. Treidler drückte die Tür vorsichtig auf. Mit einem leisen Quietschen schwang sie nach innen.
Ein künstlicher Geruch, den er zuerst nicht einzuordnen vermochte, schlug ihm entgegen. Ganz kurz, vielleicht für die Dauer eines Herzschlages, erfasste ihn das Gefühl, als ob ihn jemand aus dem Dunkel heraus anstarrte. Doch sofort verschwand der Eindruck wieder. Lösungsmittel, der Geruch stammte von Lösungsmittel. Oder frischer Farbe.
»Ernie …?«, flüsterte er und tat einen Schritt in den unbeleuchteten Flur. Leise knarrte der Holzboden unter ihm. Er lauschte abermals: nichts.
Auf der linken Flurseite lösten sich die Umrisse zweier Türen aus dem Dunkel. Offensichtlich besaßen die übereinanderliegenden Wohnungen den gleichen Grundriss. Auch hier endete der Flur in einem weiteren Zimmer. Im Gegensatz zu Amstetters Wohnung lag dieser Raum jedoch hinter einer geschlossenen Tür. Kerzenlicht flackerte durch einen schmalen Ausschnitt undurchsichtigen Glases. Vermutlich der Lichtschein, den er draußen auf dem Hausflur schon bemerkt hatte. Treidler fand den Lichtschalter und drückte ihn. Es blieb dunkel. Instinktiv tastete er nach seiner Waffe. Die Pistole steckte dort, wo sie hingehörte.
»Ernie …«, rief er nur wenig lauter. »Wo bist du?«
Keine Antwort. Treidler tastete sich weiter auf die gegenüberliegende Tür zu. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel. Er erkannte eine Garderobe, den Schirmständer, dann das Schuhregal und ein Schlüsselbrett – alles genau dort, wo er es erwartete. Und trotzdem stimmte etwas nicht. Es gab nur die Möbel. Ein Flur ohne Kleidung an der Garderobe, ohne Schuhe im Schuhschrank und ohne Schlüssel am Brett.
Erneut rief Treidler nach Amstetter und erhielt keine Antwort. Mit ein paar Schritten erreichte er die Tür zum Wohnzimmer und drückte sie auf. In dem Raum war es nur wenig heller als im Flur. Sein Blick fiel auf ein niedriges rundes Tischchen mit einer flackernden Kerze. Mit der Rückenlehne zu ihm standen rechts und links davon zwei dunkelgrüne, wuchtige Stoffsessel. Die Möbelstücke sahen aus, als ob sie seit Jahrzehnten nicht bewegt worden waren.
Kein anderes Möbelstück stand in dem Raum, kein Bild, kein Teppich. Lediglich an der gegenüberliegenden Wand hing ein mannshoher Spiegel. In ihm spiegelte sich eine Gestalt mit blonden Haaren, die in einem der Sessel saß.
Es war, als ob sein Herz aussetzte und der Verstand sich weigerte zu begreifen, was die Augen sahen. Treidler wusste nur, dass diese seltsame Regungslosigkeit dort nicht hätte sein dürfen.
***
Trotz der tief ins Gesicht gezogenen Wollmütze spürte Melchior schon nach wenigen Minuten die Kälte an Nase und Wangen. Wie Feuer brannte die eisige Luft bei jedem Atemzug in Hals und Lunge. Dutzende Menschen drängten sich auf den Bürgersteigen, Kinderwagen versperrten den Weg. Eis und Schnee hatten die Gehwege in wahre Rutschbahnen verwandelt und erschwerten das Vorankommen zusätzlich. Häufig glitt sie mit den Füßen aus und konnte sich gerade noch auf den Beinen halten. Stellenweise gab es überhaupt keinen geräumten Weg, und so musste sie über halbhohe Schneeruder auf die Straße ausweichen. Oft sank sie dabei knöcheltief ein. Schnee drang in ihre Schuhe, und bald sorgte die Anstrengung dafür, dass das Herz in ihrer Brust wie verrückt raste. Einige Male erntete sie wütendes Hupen, als Autofahrer sie mit ihrer dunklen Kleidung erst im letzten Augenblick auf der Fahrbahn
Weitere Kostenlose Bücher