Schwarzer Neckar
Schlag und Schulterpolstern. Die auffällig rot geschminkten Lippen in dem kindlich wirkenden Gesicht formten ein stummes O. Treidler trat um den Sessel herum. Sofort begriff er, warum das Spiegelbild so steif, so ungelenk wirkte. Bei der Gestalt handelte es sich nicht um einen Menschen, sondern um eine lebensgroße Puppe – um eine Gummipuppe aus dem Erotikversand. Jemand hatte sie geschminkt, ihr eine Perücke angezogen und sie gekleidet wie in den frühen achtziger Jahren.
Wo zum Teufel war Amstetter abgeblieben und wo seine Mutter? Im Flur bemerkte Treidler jetzt einen unruhigen Lichtschein, der unter einer der Türen flackerte. Woher kam plötzlich dieses Licht? Er ging wieder zurück in den Flur und überlegte für einen Augenblick, ob er einfach in den Raum eintreten konnte. Vielleicht lag Amstetters Mutter dahinter? Schließlich klopfte er. Als auch nach dem zweiten Mal niemand antwortete, drückte er vorsichtig die Klinke nach unten. Fast von selbst schwang das Türblatt nach innen.
Wie in Korridor und Wohnzimmer, so war auch dieser Raum so gut wie leer. Die Einrichtung bestand aus einer altertümlichen Schulbank sowie einer Obstkiste mit Deckchen, auf der eine Kerze brannte. Oberhalb davon an der gelblich gestrichenen Wand hing ein Kruzifix. Links neben dem Holzkreuz klebten einige Zeitungsausschnitte. Treidler trat näher heran und überflog die Schlagzeilen.
»Der Junge mit der Engelsstimme verzaubert Tausende.«
»Weihnachtskonzert der Benthaler Klosterspatzen übertrifft alle Erwartungen.«
»Katholische Kirche schaut jahrelang weg.«
»Kindesmissbrauch im Kloster Benthal.«
»Anklage gegen Mönch wegen Kindesmissbrauchs.«
»Kloster Benthal bietet Missbrauchsopfern fünftausend Euro Schadensersatz.«
Die beiden ersten Artikel umfassten nur wenige Zeilen und gehörten zu den ältesten. Sie berichteten von einer Radioübertragung, in deren Mittelpunkt ein neunjähriger Junge stand. Seine außergewöhnliche Stimme hatte damals die Zuhörer eines Weihnachtskonzertes in ihren Bann geschlagen. Einer der Berichte sprach gar von der Geburt eines neuen Kinderstars, der Heintje in nichts nachstehe.
Die nächsten Ausschnitte stammten alle von lokalen Tageszeitungen. Sie deckten Dutzende Missbrauchsfälle aus den achtziger Jahren auf, die in einem bayrischen Kloster namens Benthal stattgefunden hatten. Der letzte Bericht eines großen Nachrichtenmagazins handelte von den Bemühungen der katholischen Kirche und des Klosters, die Betroffenen von damals zu entschädigen. Dieser Artikel war erst vor wenigen Jahren erschienen.
Nur ganz leise, fast lautlos drang ein Geräusch an sein Ohr. Er fuhr er herum. Doch schon im nächsten Augenblick schnellte eine Pistole auf ihn zu. Sie tauchte so blitzartig aus dem Nichts auf, dass er nicht reagieren konnte.
Hart traf ihn das Metall der Waffe an der Schläfe. Sein Kopf kippte in den Nacken. Schmerz explodierte auf der linken Gesichtshälfte. Dutzende Lichtblitze tanzten auf seiner Netzhaut. Seine Beine knickten ein, er fand sich auf den Knien wieder. Treidler erfasste einen Schatten über sich. Um den Schwindel unter Kontrolle zu bringen, schloss er für einen Moment die Augen. Er blinzelte, eine Gestalt löste sich aus dem Nebel. Sie trug einen weiten weißen Umhang und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Auf Höhe der Brust baumelte etwas Dunkles, aus dem ein Schlauch ragte. Für einen Moment beugte sich die Gestalt über ihn. Ein weiterer Schlag traf ihn und Treidler wurde schwarz vor Augen.
***
Langsam, fast gemächlich, glitt das Taxi durch die Rottweiler Straßen. Es hatte wieder angefangen zu schneien, und der Fahrer schien mit jeder Schneeflocke seine Geschwindigkeit weiter zu verringern. Offenbar saß ihm der Schreck noch in den Gliedern. Immer wieder schielte er auf den Beifahrersitz. Melchior konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er sich vergewissern wollte, ob sie immer noch dort saß und sich nicht als Gespenst entpuppte.
Glücklicherweise befanden sie sich außerhalb der Innenstadt, und der restliche Verkehr spielte kaum noch eine Rolle. Melchior blickte ins Schneetreiben und dachte darüber nach, was sie bei Amstetter erwarten würde.
»Da vorne, das ist die Lienbergstraße«, sagte der Taxifahrer und brachte sein Fahrzeug auf dem Seitenstreifen zum Stehen. »Es ist eine Einbahnstraße. Wollen Sie hier aussteigen und den Rest laufen, oder soll ich um den Block fahren?«
Melchior blickte auf und suchte die kaum beleuchtete
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