Schwarzer Neckar
Auge. Besonders im Vergleich zu den anderen mit vierzig und achtzig Litern großen Gebinden und der viel geringeren Stückzahl.
Eine Ein-Liter-Heliumflasche war nicht viel größer als eine Mineralwasserflasche. Nicht allzu schwer und bequem zu tragen. Und von da an war es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Frage: Was zum Teufel wollte Amstetter mit zwölf tragbaren Ein-Liter-Heliumflaschen? Es gab nur eine Antwort darauf. Er musste die piepsige Stimme auf dem Band sein.
Sie stellte das Handy so ein, dass die Rufnummer beim nächsten Anruf unterdrückt wurde. Doch Treidler nahm auch dieses Mal nicht ab, und sie hoffte, dass er wenigstens die SMS nicht ignorierte.
Ob sie an seiner Stelle anders reagieren würde? Die unangenehme Antwort lautete: Nein – jeder hätte in seiner Situation genau so reagiert. Sie war schließlich diejenige, die ihn getäuscht hatte, die ihn hintergangen hatte. Und einmal mehr hasste sie diesen verfluchten Job.
Fieberhaft suchte Melchior einen Weg, Treidler von ihrem Verdacht gegen Amstetter zu unterrichten – heute noch, jetzt gleich. Vielleicht lag sie falsch. Vielleicht irrte sie sich und befand sich auf dem besten Weg, sich lächerlich zu machen. Aber einmal in ihrem Leben sollte es nicht so kommen, dass sie jemanden bespitzelte und sich nicht mehr darum kümmerte, was danach geschah, wenn ihr Auftrag beendet war. Seit Franco an der Grenze erschossen worden war, bestimmten der Verrat und das Untertauchen ihr Dasein. Natürlich könnte sie abermals allem Möglichen die Schuld daran geben – den Umständen, ihrem Vater, dem Zufall. Bisher hatte das auch hervorragend geklappt – nur diesmal nicht.
Als sie vorhin Treidler und Amstetter vom Bürofenster aus hatte wegfahren sehen, spürte sie, dass da mehr war als in den Aufträgen zuvor. Er war nicht einfach nur eine Zielperson. Sie konnte und durfte ihn nicht dieser Gefahr aussetzen.
Wo zum Teufel, wollten die beiden hin? Es gab nur drei Möglichkeiten: in eine Kneipe, zu Treidler oder zu Amstetter. Im ersten Fall wäre Treidler in Sicherheit – zumindest vorerst. Den zweiten Fall schloss sie aus. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er heute einen Kollegen mit zu sich nach Hause einladen würde, nicht nach ihrem Besuch gestern Abend. Blieb nur die dritte Möglichkeit übrig.
Aber wo wohnte Amstetter? Wen konnte sie um diese Uhrzeit noch fragen? Nicht nur das Sekretariat, nahezu das gesamte Gebäude der Polizeidirektion lag verwaist da und erwachte vermutlich erst wieder im neuen Jahr aus der weihnachtlichen Starre. Der Kriminaldauerdienst mit Winkler als Leiter befand sich noch immer in Florheim. Das vierköpfige Team wurde nicht vor zwanzig Uhr zurückerwartet. Anita Schober fiel ihr ein, die gestern Treidlers Adresse ohne Umschweife herausgerückt hatte. Sie hatte noch mit ihrer einfachen Telefonnummer geprahlt: viermal die Vier und einmal die Fünf.
Melchior wählte die Nummer. Nach dem dritten Klingeln hob Anita Schober tatsächlich ab.
»Das ist aber eine Überraschung, Frau Kommissarin«, begann sie sogleich. »Haben Sie immer noch keinen Dienstschluss? Ja klar, Sie müssen sicherlich noch arbeiten, wegen der Festnahme in Florheim, richtig?«
»Nein, Frau Schober, es geht um …« Sie kam nicht weiter.
»Wie das der Hauptkommissar Treidler wieder im Alleingang gelöst hat – einfach fabelhaft.« Schober redete einfach drauflos, als ob sie den Einwand nicht gehört hatte.
Melchior versuchte nochmals, den Redeschwall der Frau zu unterbrechen. »Ja, natürlich. Aber ich brauche die Adresse von Herrn Amstetter …«
» Unserem Herrn Amstetter von der Kriminaltechnik?«, fragte Schober nach einem kurzen Zögern.
Melchior bereute, dass die Frage diesen winzigen Spielraum der Interpretation bot. »Ja, natürlich. Die Adresse, bitte. Es ist wichtig.«
»Lienbergstraße 4 in Rottweil. Aber warum? Was ist denn so wichtig?«
Ohne auf die Frage einzugehen, beendete Melchior mit einem »Danke« das Gespräch. Sie war einen Schritt weiter.
Doch die Ernüchterung folgte auf dem Fuße. Auf die Männer der Schutzpolizei konnte sie genauso wenig zurückgreifen wie auf den Kriminaldauerdienst. Auch dort befanden sich die meisten Beamten schon im Weihnachtsurlaub. Im Moment verfügte die Einsatzzentrale lediglich über zwei Streifenwagen, die sich allerdings kilometerweit entfernt befanden. Und bei dem Verkehr könnte es sich eine gute Weile hinziehen, bis die Beamten die Polizeidirektion oder die Lienbergstraße erreichten.
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