Schwarzer Neckar
Straße ab. Nur wenige Fahrzeuge parkten am Straßenrand, und keines davon sah wie Treidlers Mercedes aus. Schon wollte sie den Taxifahrer anweisen, sie doch zu Treidlers Wohnung zu bringen. Da erkannte sie fast am Ende der Straße auf einem verlassenen Parkplatz den dunkelblauen 190er-Mercedes.
»Fahren Sie bis vor zu dem Parkplatz.« Melchior deutete durch die Frontscheibe.
»Wie? Entgegen der Einbahnstraße?« Der Taxifahrer blickte sie an, als ob er nicht richtig verstanden hätte.
»Ja, fahren Sie. Soll ich Ihnen meinen Dienstausweis nochmals zeigen?«
»Nein, ist schon gut.« Der Mann legte den Gang ein und fuhr langsam an.
***
Treidler riss die Augen auf. Stumm glotzte ihn die Gummipuppe auf dem einen Sessel an. Auf dem anderen Sessel erwiderte eine Gestalt mit schreckensbleichem Gesicht seinen Blick. Er musterte den Körper, der sich im Spiegel abzeichnete. Die Hände waren gefaltet wie zum Gebet und gefesselt mit einem dünnen Draht. Die Person riss den Mund weit auf, und die Augen stierten ihn mit unnatürlicher Größe an. Schwellungen an Lippen und Wange ließen das Gesicht wie eine aufgedunsene Totenmaske wirken.
Ein Drahtseil umschlang den Hals der Gestalt, als ob es dort eingebrannt worden wäre. Sein Herz setzte für einen Moment aus. Die wirren dunkelblonden Haare, der dunkle Bartschatten über Kinn und Wangen – er war es selbst, den er dort sah.
Treidler versuchte, seine Muskeln zu mobilisieren. Er streckte einige Male die Finger aus und ballte dann abrupt seine Hände so fest zu Fäusten, dass die Knöchel weiß hervortraten. Dann setzte sein Herzschlag wieder ein. Mit einem Kribbeln ließ das Taubheitsgefühl allmählich nach, und er spürte das Blut bis in seine Fingerspitzen vordringen.
»Schön, dass du wach bist. Ich hab vorhin wohl etwas zu stark zugeschlagen.«
Die Stimme direkt hinter ihm klang vertraut. Amstetter, fuhr es Treidler durch den Sinn. Im Spiegel konnte er niemanden erkennen. Er versuchte, den Kopf zu drehen, aber das Drahtseil um seinen Hals stoppte sofort alle Bemühungen. »Hilf mir«, röchelte er. »Ernie, mach mich los …«
»Oh, das tut mir leid.« Eine Gestalt in einem weißen Umhang trat in das Sichtfeld des Spiegels. Die Kapuze hing herunter, und Treidler erkannte einen dunklen Lockenkopf und schließlich Amstetters Gesichtszüge. Als er sich nach vorne bückte, kam auf seinem Rücken ein Tragegurt mit einer grauen Gasflasche von der Größe einer Colaflasche zum Vorschein.
Mit einer Hand werkelte Amstetter an Treidlers Hals herum, und schnell ließ der Druck auf seine Gurgel nach. Der Draht spannte nicht mehr. Mit einem schweren Atemzug füllten sich seine Lungen. Doch statt ihn ganz zu befreien, trat Amstetter in seinem idiotischen Umhang einen Schritt zurück und richtete eine Pistole auf ihn.
»Was soll das?« Treidler versuchte, seinen Kopf zu drehen.
»Du weißt es immer noch nicht.« Amstetters dunkle Augen huschten hin und her, als ob sie nicht stillstehen könnten. Das andere Zimmer, die Zeitungsausschnitte. Was hatte er mit dem Missbrauchsfällen in dem Kloster zu tun?
»Was weiß ich nicht?« Treidler war nun ehrlich irritiert. »Mach mich endlich los, verflucht.« Er beugte sich nach vorne, um aufzustehen.
»Nein«, rief Amstetter schnell und spannte den Hahn der Pistole. »Du bleibst genau da sitzen. Der Draht ist zwar lose, doch ich werde nicht zögern, dir eine Kugel zu verpassen, falls du versuchst aufzustehen. Und damit du es gleich weißt, deine Dienstwaffe hab ich dir auch schon abgenommen.«
»Mann, Ernie, was soll der Scheiß? Willst du mich auf den Arm nehmen?« Das Kerzenlicht flackerte auf und ließ Schatten über das Gesicht der Gummipuppe tanzen. Jedes Haar der blonden Perücke saß perfekt. Sie musste erst vor Kurzem gekämmt worden sein. Treidler schluckte und spürte, dass sein Unbehagen wuchs. Dennoch versuchte er es mit einem Scherz. »Du hättest mir auch anders sagen können, dass du keine Salamipizza hast.«
»Nie gehabt. Ich bin Vegetarier. Außerdem gibt es bei mir nicht einmal einen Gefrierschrank.«
»Wir sind auch nicht zum Pizzaessen hier …«
Amstetter nickte und ließ die Pistole weiter auf Treidlers Kopf gerichtet.
»Wessen Wohnung ist das eigentlich? Wer ist denn dieser M. Holzmann, dessen Name da an der Türklingel steht?«
»Marta Holzmann. Eine alte Frau.«
»Wo ist sie?«
Amstetter entsicherte seine Pistole. »Tot.« Die Antwort kam über seine Lippen, als ob sie nichts zu bedeuten
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