Schwarzer Neckar
äußeren Leichenschau an.«
»Gut.«
»Und damit Sie es gleich wissen: Ich begleite Sie.«
Treidler nickte ergeben. Zugleich spürte er, wie sich sein Körper gegen das zu wehren begann, was jetzt unweigerlich kommen würde.
Nach einer kurzen Fahrt durch die immer noch nicht ganz vom Schnee geräumten Straßen erreichten Treidler und Melchior das Kreiskrankenhaus Rottweil. Aufgrund der baufälligen Substanz des früheren Gebäudes hatte sich dort vor mehr als zehn Jahren die Pathologie als eigenständige Abteilung einquartiert. Die Verantwortlichen hatten damals den Übergangscharakter der Situation betont. Bis heute hatte sich allerdings nichts daran geändert.
Treidler klingelte an der Tür im Kellergeschoss, die zu den Räumen der Rechtsmedizin führte. Eine Mitarbeiterin von Dr. Karchenberg erkundigte sich nach ihren Namen und ließ sie eintreten.
Unansehnliche hellgraue Fliesen an Boden und Wänden bekleideten den Flur. Hinter den Türen auf beiden Seiten befanden sich Büros, zwei große Kühlräume sowie mehrere Aufbewahrungszimmer für die Leichen. Treidler blickte stur geradeaus zu den zwei Obduktionssälen, die ganz am Ende lagen. Durch die Milchglasscheiben des Saales auf der rechten Seite drang fahles Neonlicht, das ein scharfes Rechteck auf die Fliesen zeichnete. Wie in einem Tunnel versuchte er, alles rechts und links von sich zu ignorieren. Trotzdem durchfuhr ihn ein eisiger Schauer, als er die dritte Tür auf der rechten Seite passierte. Obwohl er nicht hinsah, wusste er um die Nummer und den Schriftzug auf dem Schild, das an der Wand daneben hing. »Null-Null-Vier« und »Aufbewahrung IV« lautete die nüchterne Beschriftung. Niemals würde er den Anblick von Lisas Leiche vergessen. Ihr Körper hatte auf einem Stahltisch gelegen, bis zum Hals nur mit einem dünnen Tuch bedeckt. Damals hatte er sie nur zudecken wollen, damit sie nicht fror.
»Ist Ihnen nicht wohl?«, brachte ihn Melchiors Stimme wieder in die Gegenwart zurück.
Treidler schüttelte den Kopf und beschleunigte seinen Schritt. Noch bevor er die Pendeltür zum Obduktionssaal erreichte, schlug ihm der Geruch des Todes entgegen. Trotz seiner langen Dienstzeit gehörte die Leichenschau für ihn immer noch zu den unangenehmsten Aufgaben, die es in seinem Beruf gab. Glücklicherweise reichte die Zeit heute Morgen nur für eine äußere Leichenschau. Wenn die eigentliche Obduktion begann, würde er längst fort sein.
Dr. Karchenberg schaute nicht auf, als die beiden eintraten. Er hantierte weiter an dem nackten Leichnam herum, der vor ihm auf dem metallenen Tisch, ähnlich einem riesigen flachen Waschbecken, lag. Dabei nickte er im Takt mit dem Kopf. Durch seinen Mundschutz konnte man hören, dass er das Lied mitsummte, das im Radio hinter ihm dudelte.
Seine kauzige Erscheinung bescherte dem Doktor jederzeit Aufmerksamkeit. Mitten auf seinem Kopf machte sich eine handtellergroße kahle Stelle breit. Doch das hinderte ihn nicht, den Rest seiner silbergrauen Haare zu einem Zopf im Nacken zusammenzubinden. Auf Höhe der Ohren markierte eine scharfe Linie den Haaransatz und teilte den Kopf in einen unbehaarten und einen behaarten Teil. Fast hatte es den Anschein, dass er die Haare, die auf dem Schädel nicht mehr nachwuchsen, am Hinterkopf nachzüchtete, um dieses Fehlen auszugleichen.
Auch sonst glich der Mann in Kleidung und Auftreten mehr einem waschechten Spät-Achtundsechziger als dem üblichen Arztbild. Er liebte seinen Beruf, über den andere Menschen teils aus Ehrfurcht, teils aus Ekel nicht reden wollten. Karchenberg selbst erwartete, dass man ihn weder als Doktor noch als Pathologen bezeichnete. Pedantisch, wie er immer auftrat, legte er großen Wert auf die Bezeichnung Rechtsmediziner , obwohl auch Pathologen Obduktionen vornahmen. Er wurde nicht müde zu betonen, dass diese Kollegen Leichenöffnungen nur zur Abklärung der Todesursache von Patienten durchführten, die im Krankenhaus gestorben waren, oder wenn eine nicht natürliche Todesursache ausgeschlossen werden konnte. Rechtsmediziner wie er hingegen wurden nur im Auftrag der Staatsanwaltschaft tätig. Und schon aufgrund dieser Stellung verstand sich Dr. Karchenberg als die Institution schlechthin, die im Kreis Rottweil bei keiner Verbrechensaufklärung fehlen durfte.
Der Körper auf dem Metalltisch war zweifellos der des alten Mannes von heute Morgen. Dennoch zuckte Treidler zusammen, als er den Leichnam näher betrachtete. Jedoch nicht nur wegen der Verletzung an
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