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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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seinem Kopf und der Hässlichkeit, die ein toter, nackter Körper stets aufwies. Es lag vielmehr an der schieren Menge von Tätowierungen, die sich auf der faltigen grauen Haut des Mannes ausbreiteten. Außer Gesicht, Füßen und Händen gab es kaum eine Körperstelle ohne Tattoo. Sie stellten kyrillische Buchstaben und großflächige Figuren dar – die meisten größer als eine Handfläche.
    »Na, was sagen Sie zu unserem wandelnden Gemälde?«, begrüßte sie Karchenberg.
    »Ziemlich ungewöhnlich«, erwiderte Treidler knapp.
    »Auf seinem Rücken sieht es nicht anders aus. Dort gibt’s sogar eine komplette Kirche in der Größe eines Geschirrhandtuches zu bestaunen.« Er schaute auf und warf einen überraschten Blick auf Melchior. »Oh, Sie haben eine neue Kollegin.«
    »Das ist Hauptkommissarin Carina Melchior«, beeilte sich Treidler zu sagen.
    Karchenberg musterte Melchior kurz und nickte anerkennend. »Hübsch. Ab und an wäre es von Vorteil, noch mal zwanzig Jahre jünger zu sein.« Er lächelte ihr zu und erntete einen Blick, der jede weitere Schmeichelei im Keim erstickte. In einem Anflug von Schwermut seufzte er und wandte sich wieder an Treidler: »Wie immer? Todesursache und Todeszeitpunkt?«
    Treidler nickte.
    »Die Todesursache ist schnell geklärt. Tod durch Kopfschuss. Schaut euch das hässliche Loch oberhalb der linken Augenbraue an. Die Haut dort weist Schmauchspuren auf. Das war ein aufgesetzter Schuss. Die Kugel ist oberhalb der Augenhöhle eingedrungen, dann weiter durch das Gehirn.« Er hob den Kopf der Leiche an und drehte ihn so weit nach rechts, dass die beiden Kommissare den Hinterkopf sehen konnten. »Schließlich trat sie etwas oberhalb des ersten Nackenwirbels wieder aus.« Karchenberg ließ den Kopf fallen. »Glatt den Schädel durchschlagen. Der war sofort tot.« Er nickte, wohl um seinen Ausführungen mehr Gewicht zu verleihen.
    »Noch was?«
    »Ja, der Schusskanal – er verläuft nahezu horizontal. Ich habe Totenflecken am Gesäß gefunden. Das heißt, der Körper ist kurz nach dem Mord am Fundort abgelegt worden, oder der Mann wurde im Sitzen erschossen. Und in diesem Fall muss der Mörder, während er den Schuss abgab, in die Knie gegangen sein. Aber vielleicht suchen wir auch eine kleinere Person, womöglich eine Frau.«
    »Er ist im Wartehäuschen erschossen worden. Das haben wir inzwischen geklärt.«
    »Hat die Spurensicherung schon das Geschoss gefunden?«
    »Ja, Projektil und Hülse – beides ist bei der ballistischen Untersuchung.« Aus den Augenwinkeln sah Treidler, wie Melchior die Tätowierungen neugierig betrachtete.
    »Zum Todeszeitpunkt kann ich im Moment nicht viel sagen«, fuhr Karchenberg mit einer seiner berühmten Standardaussagen fort. Freilich wusste Treidler genau, dass dies wie immer eine maßlose Untertreibung darstellte und sogleich ein längerer Monolog über ihn hereinbrechen würde. Warum konnte der Mann nicht einfach nur die Uhrzeit nennen? Und es kam, wie Treidler befürchte. »Er liegt gerade mal zehn Minuten auf meinem Tisch. Ich kann nicht hexen.« Karchenberg atmete einmal tief durch. »Neben den Totenflecken am Gesäß gibt es welche an den Oberschenkeln. Alle sind reversibel – man kann sie also noch wegdrücken.« Er befand sich in seinem Element und redete ohne Punkt und Komma weiter: »Das passt auch zur Totenstarre, ziemlich weit fortgeschritten. Sie wissen sicherlich, wie es zur Totenstarre kommt, oder?«
    Treidler nickte, erkannte jedoch im gleichen Augenblick, dass sein Gegenüber sich nicht für die Antwort interessierte.
    Karchenberg war nicht mehr zu bremsen. »Für das Auftreten der Totenstarre sind im Grunde zwei Prozesse verantwortlich. Zum einen liegt es am Erliegen der Sauerstoffversorgung und zum Zweiten am Zerfall der biochemischen Substanz Adenosintriphosphat. Beide Faktoren zusammen bewirken eine Versteifung des Körpers, die nach zwei bis vier Stunden beginnt. Nur innerhalb der ersten acht Stunden kann man die Totenstarre noch durch kraftvolles Bewegen der Gliedmaßen lösen. So wie hier.« Karchenberg hob den rechten Arm des toten Mannes an, beugte den Unterarm mehrmals hin und her und ließ ihn zurückfallen.
    »Die Uhrzeit …«, beeilte sich Treidler zu sagen, um den Doktor an die ursprüngliche Frage zu erinnern.
    Karchenberg schaute Treidler mit einer Mischung aus Missbilligung und Unverständnis an. »Die Körperkerntemperatur betrug zehn Komma fünf Grad, als sie ihn vorhin herbrachten. Das war kurz nach zehn

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