Schwarzer Neckar
…«
»Bei zwei Grad Temperaturverlust pro Stunde starb er vor etwa acht Stunden«, mischte sich Melchior unvermittelt ein.
Wie eine dunkle Wolke huschte ein unwilliger Zug über Karchenbergs Gesicht. Er warf Melchior einen kritischen Blick zu und redete stockend weiter: »Eher später … es war … es war ziemlich kalt heute Nacht – so minus acht Grad …«
»Können wir uns auf etwa drei Uhr verständigen?«, fragte Melchior und lächelte gespielt liebenswürdig.
Karchenberg nickte und sagte zum ersten Mal nichts.
Melchior beugte sich über den Oberkörper. »Ich kenne diese Tätowierungen.«
»Darf ich raten? Bestimmt etwas Russisches«, mutmaßte Treidler.
»Vory«, gab sie in einem kehligen Laut zurück. Ihre Stimme klang dunkel, fast geheimnisvoll.
»Wer?«
»Die Frage sollte wohl eher ›Was?‹ lauten.«
»Na dann klären Sie mich mal auf, Frau Kollegin.«
» Vory – eigentlich Vory v zakone – heißt übersetzt etwa so viel wie ›Diebe, die dem Kodex folgen‹. Bei uns bezeichnet man diese Gruppierung als russische Mafia oder schlicht Russenmafia.«
»Russenmafia?«, echote Karchenberg und blickte vielsagend zu Treidler.
»Ja«, fuhr Melchior mit einem Kopfnicken fort. »Organisierter Waffen- und Drogenhandel, Schmuggel, Prostitution – die ganze Latte der Schwerverbrechen. Und das schon seit über einem halben Jahrhundert. Die Vory führt ihre Geschichte auf die Berufskriminellen der Stalin-Ära zurück. Sobald man die Männer damals erwischte, wurden sie in Gulags deportiert – nach Sibirien oder in den Kaukasus. Diese Arbeitslager überlebten nur die Hartgesottenen unter ihnen. Nach Flucht oder Entlassung gelangten sie meist rasch an die Spitze ihrer Organisation.«
»Stalin? Was hat Stalin mit diesem Kaff zu tun?«, warf Treidler zweifelnd ein.
»Das weiß ich nicht. Aber die Vory sind in Westeuropa schon vor etwa zwanzig Jahren aktiv geworden, als in den Achtzigern dank Glasnost und Perestroika der Eiserne Vorhang durchlässig wurde und schließlich fiel.«
»Wollen Sie damit andeuten, dass wir vor uns ein in Würde gealtertes Mitglied der russischen Mafia liegen haben? Ein Überbleibsel der Stalin-Ära sozusagen, das seinen Lebensabend in der Metropole Florheim verbringen wollte, es allerdings nicht ganz geschafft hat, hier eines natürlichen Todes zu sterben? Erschossen von einer kleinen Frau oder einem … einem Zwerg?«
Melchior ging nicht auf Treidlers zynische Bemerkungen ein, sondern zuckte nur mit den Achseln. »Er trägt zumindest ihre Tätowierungen.«
»Und dann? Diese lächerlichen Bildchen und Verstümmelungen haben bestimmt keine tiefere Bedeutung.«
»Doch«, widersprach Melchior.
»Ich bin ganz Ohr.« Treidler blickte wieder zur Leiche. »Diesen kyrillischen Scheiß kann ich eh nicht lesen.«
»Aber die Mitglieder der Vory können sich untereinander lesen wie Bücher. Die Bilder stellen im Grunde die Biografie der Person dar, die sie trägt. Schauen Sie hier, das große Kreuz auf der Brust. Es bedeutet, dass er ein angesehener Dieb ist – in seinen Kreisen natürlich.«
»Natürlich«, wiederholte Treidler wie selbstverständlich und atmete scharf aus.
»Herr Dr. Karchenberg, Sie sagten vorhin, dass auf seinem Rücken eine Kirche abgebildet ist. Wissen Sie, mit wie vielen Türmen?«
Der Angesprochene hob nur die Schultern und schaute zerstreut drein. Die Verknüpfung des Adjektivs »russisch« mit dem Substantiv »Mafia« machte ihn offenbar immer noch sprachlos. Vermutlich lag zum ersten Mal ein ehemaliges Mitglied der Russenmafia auf seinem Seziertisch.
Melchior wartete seine Antwort nicht ab. »Egal – mit jedem Gefängnisaufenthalt kommt ein weiterer Turm hinzu.«
»Und die beiden Sterne auf seinen Knien?«, fragte Treidler, wenngleich er im Nachhinein gern auf die Antwort verzichtet hätte.
Melchior stieß einen Laut der Resignation aus. »Die bedeuten, dass er sich vor niemandem verbeugt.«
VIER
Die Schreibarbeiten und sonstigen Aufgaben einer Dienststelle, die im Kriminalkommissariat 1 in Rottweil anfielen, teilten sich zwei Halbtagskräfte. Die beiden Frauen im Sekretariat wechselten wöchentlich zur Mittagszeit, wobei Anita Schober an den ungeraden Wochen vormittags die Stellung an Telefon und Computer hielt. Sie war das absolute Gegenteil ihrer schlaksigen Kollegin Ursula Lohrmann, die in etwa einer Stunde ihren Dienst antreten würde.
Anita Schober gehörte zu der Art von Frauen, die wohl ihr ganzes Leben lang mit ihrem Körpergewicht
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