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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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Aleksander. Er warf Melchior einen fragenden Blick zu.
    Die deutete auf einen der Briefkästen. »A. Oleskow« entzifferte Treidler das ausgebleichte Gekritzel auf dem Schildchen. Auch wenn dieser Oleskow nicht sofort gefunden werden wollte, so wünschte er immerhin, Post zu bekommen.
    Sofern Treidler die Anordnung der Briefkästen richtig interpretierte, befand sich Oleskows Wohnung im dritten Stock. Mangels passender Klingel drückte er wahllos irgendwelche Knöpfe, bis der Türsummer ertönte. Er schob die Tür auf und erklärte zufrieden: »Funktioniert immer.«
    Drinnen empfing sie der modrige Geruch des alten Gebäudes. Eine Mischung aus Kohl, schalem Rauch und Heizöl lag in der Luft. Es schnürte Treidler fast den Atem ab. Der Gang im Parterre führte an zwei Wohnungstüren mit Oberlicht vorbei zu einer ausgetretenen Steintreppe, die sich um das Gitter eines Aufzugsschachtes herum nach oben schlängelte. Bis dorthin bedeckte ein speckiger mintgrüner Belag die Wände. Die dutzendfache Bemalung im Laufe der Jahrzehnte vermittelte den Eindruck von Emaille und stammte vermutlich aus den frühen Siebzigern. Nur die Strom- und Wasserleitungen, die über dem Putz zu den Wohnungen führten, unterbrachen allenthalben die dicke Schicht.
    Treidler blickte durch das Metallgitter. Die Aufzugskabine im Schacht befand sich ganz oben. Er erkannte fünf Stockwerke mit jeweils zwei Türen, die genau gegenüberliegend rechts und links vom Treppenabsatz in die Wohnungen führten. Er ging voran die Treppe hoch. Die Türschilder im ersten Geschoss deuteten auf deutsche Familien hin. Auch auf dem folgenden Treppenabsatz wohnte kein A. Oleskow. Die Namen lauteten »Pfleiderer« und »de Luca«. Doch schon im nächsten Stockwerk wusste Treidler instinktiv, dass sie richtig waren – und zwar noch bevor er das Schild an der Klingel las. Die linke Wohnungstür stand einen schmalen Spalt offen. Frische Einbruchsspuren am Rahmen zeigten, dass der oder die Bewohner nicht nur vergessen hatten, die Tür zu schließen – sie war eingetreten worden.
    Nur eine einfache Befragung wollten sie durchführen, fuhr es Treidler durch den Kopf. Stattdessen standen sie vor einer aufgebrochenen Tür.
    »Vielleicht ist es nicht das, wonach es aussieht«, flüsterte Melchior hinter ihm.
    »Es ist immer das, wonach es aussieht.« Treidler tastete nach seiner Waffe. Glücklicherweise befand sie sich heute genau dort, wo sie hingehörte: im Holster unter der linken Achsel. Mit einem flauen Gefühl im Magen näherte er sich dem Türspalt und lauschte. Nichts. Er zog den Kopf zurück und drückte die Tür vorsichtig mit der Fußspitze auf. Leise quietschend schwang sie etwas nach innen, bis das Türblatt abrupt stoppte. Irgendetwas lag direkt dahinter. Treidler entdeckte münzgroße dunkle Stellen auf dem Parkettboden. Sie führten unter der Tür hindurch, weiter in die Wohnung hinein. Im nächsten Moment bemerkte er die Schuhe und Füße einer Person. Sie ragten in den Flur. Und jetzt wusste er auch, um was es sich bei den bräunlichen Stellen auf dem Fußboden handelte: Blut.
    Hinter der Tür lag jemand, vermutlich verletzt oder gar tot. Die Erkenntnis beschleunigte Treidlers Herzschlag. Er warf Melchior einen beschwörenden Blick zu und zog langsam seine Pistole aus dem Holster. Er hebelte eine Patrone in den Lauf und drückte den Sicherungsbügel nach unten. Ein helles Klicken ertönte. Verflucht noch mal – zu laut! Spätestens jetzt wusste jeder in der Wohnung, dass jemand mit einer geladenen Waffe vor der Tür hantierte. Mit einem Kopfnicken deutete er Melchior an, es ihm gleich zu tun. Wortlos zog auch sie ihre Dienstwaffe und entsicherte sie.
    Als sie ihre Pistole schussbereit in den Händen hielt, trat Treidler auf die halb offene Wohnungstür zu. Er schlich mehr, denn er ging, immer darauf bedacht, durch die Gewichtsverlagerung kein Geräusch auf dem abgewetzten Parkettboden zu verursachen. Zudem wollte er nicht in das Blut auf dem Boden treten. Nach drei, vier kleinen Schritten befand er sich nahe genug an der Tür, um vorsichtig in die Wohnung zu spähen.
    Bei dem Anblick, der sich hinter der Tür bot, blieb ihm fast das Herz stehen. Er hatte bisher gedacht, in seinen Beruf schon alles gesehen zu haben. Vermutlich kam dies der Wahrheit ziemlich nahe. Zwanzig Dienstjahre bei der Mordkommission bedeuteten, dass er die körperlichen Auswirkungen der allermeisten Todesursachen zur Genüge kannte. Auch wusste er, dass meist nicht der Anblick des

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