Schwarzer Neckar
Grauens das Entsetzen beim Menschen hervorrief, sondern vielmehr die Abwesenheit der Normalität. Und dennoch ließ der Schock nur langsam nach. Auf dem Boden, in einer riesigen Blutlache, lag eine männliche Gestalt unbestimmbaren Alters. Lediglich ein heller Hochflor-Läufer verhinderte, dass das Blut unter der Tür hindurch auf den Treppenabsatz floss. Das Schrecklichste jedoch war die Verletzung des Mannes. An seinem Hals, vielleicht zwei fingerbreit unterhalb des Kinns, klaffte ein Schnitt, der von einem Ohr zum anderen führte. Immer noch sickerte Blut aus der tiefen Wunde und färbte die Kleidung rot. Treidler musste nicht länger hinsehen, um zu erkennen, dass der Mann nicht mehr lebte. Und erst mit dem Wegsehen beruhigte sich sein Puls ein wenig.
Er sah zu Melchior und deutete ihr mit dem Finger auf dem Mund an, ruhig zu sein. Sein Blick fiel auf die beiden Türen links von ihm. Die vordere stand einen Spalt offen. Im nächsten Moment erregte ein leises Knarren von Holz seine Aufmerksamkeit. Er fuhr herum. Nichts. Das Knarren war aus dem Zimmer direkt gegenüber der Wohnungstür gekommen – kaum fünf Meter entfernt. Sofort stieg seine Anspannung wieder an. Ein weiteres Mal überprüfte er, ob der Sicherungshebel der Pistole nach unten zeigte, und hielt sie vor das Gesicht. Schritt für Schritt tastete er sich an der Wand entlang, auf den Raum am anderen Ende des Ganges zu. Nicht einen winzigen Moment ließ er den Durchgang aus den Augen. Kein Geräusch drang aus dem Raum, offenbar hielt sich niemand darin auf. Nur hinter sich hörte er Melchior leise und regelmäßig atmen. Ein beruhigendes Gefühl, fand er auf einmal.
Noch etwa vier Meter bis zum Durchgang. Nach einem weiteren Schritt erschwerten zwei dicke Wintermäntel an der Wandgarderobe die Sicht nach vorne. Treidlers Blick fiel auf den Boden. Zwei Paar Schuhe – nichts Außergewöhnliches, dachte er im ersten Moment. Dann erkannte er aus den Augenwinkeln den hellen Fellbesatz um den Schaft und die seltsamen Muster. Diese Art von Stiefeln hatte er schon einmal gesehen: an den Füßen des toten Mannes im Wartehäuschen von Florheim.
Wortlos deutete er auf die Stiefel und wandte sich aufs Neue dem Raum am Ende des Ganges zu. Die schwarz-weißen Fliesen an Boden und Wänden ließen vermuten, dass es sich um die Küche handelte. Faustgroße Plastiktütchen standen auf einem Küchentisch. Einkäufe? Nein, dagegen sprach das dunkle Klebeband, das sie umhüllte. Jäh begriff Treidler, was auf dem Tisch lag: Dutzende von Päckchen, gewiss mit illegalem Inhalt. Es musste sich um Drogen handeln.
Fatalerweise hatten sie für ihre Befragung keinen besseren Zeitpunkt gefunden, als mitten in ein Drogengeschäft zu platzen. Welch beschissener Zufall! Plötzlich das Poltern eines schweren Gegenstandes. Er wusste instinktiv, dass etwas passiert sein musste. Und schon beim nächsten Herzschlag ahnte er die Ursache des Geräusches: Melchiors Pistole. Zeitgleich mit dieser Erkenntnis fuhr es ihm eiskalt über den Rücken. Dann folgte ein Schrei. Immer noch mit der Waffe im Anschlag fuhr er herum. Ein wahrer Koloss von Mann umklammerte Melchior von hinten. Er presste die zierliche Frau so fest an seinen Körper, dass sie nur mit den Zehenspitzen den Fußboden erreichte. Es sah aus, als ob er sie mit seinem mächtigen Arm zerquetschte. Mit der anderen Hand drückte er ihr ein Teppichmesser an den Hals. Direkt vor der Vertiefung, die sich durch den Druck des Messers auf der Haut bildete, pochte ihre Schlagader. Und an der Klinge klebte Blut – Blut, das fraglos von dem Toten an der Wohnungstür stammte.
SIEBEN
Der Lauf von Treidlers Waffe zielte direkt auf den quadratischen Schädel des Riesen. Der Mann überragte ihn bestimmt um einen Kopf und wog vermutlich erheblich mehr. Doch trotz dieser Masse verdeckte Melchior mit ihrer kleinen Statur einen Großteil des Körpers. Außer seinen Unterschenkeln schauten lediglich die breiten Schultern und ein Teil des Kopfes hervor. Wie dünne Fäden klebten blonde Haare auf seiner Stirn. Weit hervorstehende Glupschaugen unter hellen, fast weißen Brauen verliehen dem Gesicht etwas Abstoßendes. Seine Pupillen huschten unentwegt hin und her und musterten Treidler feindselig. Der Mann sah gehetzt aus.
Bisher jedoch hielt Treidler dem Blick stand. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen oder gar zurückweichen. Dennoch machten seine Gedanken sich selbstständig. War es das wirklich wert? Sollte er die Pistole nicht weglegen und
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