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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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den Mann davonkommen lassen? Er schob die Bedenken beiseite und forderte in scharfem Tonfall: »Kriminalpolizei Rottweil. Legen Sie die Waffe weg, aber ganz langsam.«
    Keine Reaktion.
    Eine angespannte Stille legte sich über den Flur, während beide einander argwöhnisch beäugten. Verstand der Mann ihn überhaupt? Etwas stimmte mit ihm nicht. Er bemerkte den fiebrigen Glanz in seinen Augen und wusste mit einem Mal, wen er vor sich hatte: einen Junkie auf Entzug, der keinerlei Angst zeigte und zu allem entschlossen schien.
    »Tun Sie doch etwas …«, drang unversehens Melchiors Stimme auf ihn ein.
    Was meinte sie? Was sollte er tun? Schießen? Unsinn – schon eine Handbewegung würde ausreichen und das Teppichmesser hätte ihre Halsschlagader durchtrennt. Es gab nur eine Stelle im Schultergelenk, die er genau treffen musste, damit der Mann augenblicklich seine Waffe fallen ließ: den knöchernen Ursprung der Bizepssehne am Schulterblatt. Der Versuch, die Hand zu bewegen, führte bei einer durchtrennten Sehne zum sofortigen Versagen der Muskeln. Treidler überschlug die Entfernung: weniger als zwei Meter, aber gerade mal ein Ziel von der Größe einer Walnuss. War er nahe genug, um zu treffen? Früher jedenfalls hätte es gereicht. Doch er hatte seit zwei Jahren nicht mehr geschossen.
    »Leg deine Waffe auf den Boden, wenn du die Kleine in einem Stück zurückhaben willst.« Der Riese sprach mit unverkennbar russischem Akzent. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, drückte er die Klinge fester auf Melchiors Hals. Sogleich trat etwas Blut aus einer kleinen Schnittwunde und rann über ihre Haut. »Ich bin gut bewaffnet.«
    »Ich auch«, gab Treidler ungerührt zurück. Es überraschte ihn selbst, wie ruhig er die Pistole in diesem Augenblick ausrichten konnte.
    »Verflucht noch mal, schießen Sie endlich, Treidler!«
    »Das wagt er nicht«, höhnte der Russe. »Pah! Ein deutscher Bulle lässt sich zuerst anschießen, bevor er selbst schießt.«
    Treidler ließ ihn reden. Solange der Mann redete, machte er nichts anderes. Er versuchte, im Gesicht Melchiors eine Regung, einen Hinweis zu erkennen. Doch außer ihren angsterfüllten Augen entdeckte er nicht das Geringste. Da hörte er nur noch sich selbst, seinen Atem und den schnellen Herzschlag, der in seinen Ohren rauschte und das Blut durch seinen Körper pumpte.
    »Hau ab, sonst …«, schrie der Riese unvermittelt los. Er klang mit einem Mal nervös – zu nervös. Bald könnte die Situation unkontrollierbar werden.
    »Sonst was? Du kommst hier nicht mehr raus!«, brüllte Treidler noch lauter zurück.
    »Das werden wir schon sehen, Bulle. Ich hab nichts zu verlieren.«
    Treidler schaute in Melchiors Augen, und für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Die Zeit reichte für ein kaum merkliches Nicken. In diesem Moment fiel seine Entscheidung. Er drückte ab.
    Der Knall hallte in seinen Ohren nach. Ein kehliger Aufschrei, er musste den Russen getroffen haben: Es war eine männliche Stimme. Melchior blickte fassungslos, aber offensichtlich unverletzt an sich herunter, und Treidler fiel ein Stein vom Herzen.
    Einen Schritt hinter ihr kniete der Riese auf dem Boden. Er hielt sich die rechte Schulter und stieß ununterbrochen russische Flüche aus. Ein gutes Stück entfernt lag außerhalb seiner Reichweite das Teppichmesser. Obwohl sich dem Mann nicht der Hauch einer Chance bot, schnell genug an seine Waffe zu kommen, hielt Treidler den Lauf seiner Pistole weiter auf ihn gerichtet. Doch einen Augenblick später fiel der Russe wie ein Sack Kartoffeln nach vorne und schlug hart mit dem Kopf am Boden auf. Erleichtert atmete Treidler aus und ließ die Waffe sinken.
    »Sie haben wirklich geschossen …«, sagte Melchior. Entsetzen schwang in ihrer Stimme. »Ich kann es einfach nicht glauben. Sie haben tatsächlich auf mich geschossen …«
    »Natürlich, Sie sagten doch, ich soll schießen.« Er ging auf sie zu.
    »Das war nicht so gemeint.« Sie hob beide Unterarme vor ihr Gesicht, als ob sie ihn abwehren wollte.
    Treidler hielt inne. »Warum sagen Sie dann, dass ich schießen soll?«
    »Ich … ich …«, stotterte Melchior. »Waren Sie sich wenigstens sicher?«
    Treidler zuckte mit den Achseln. »Irgendwie schon …«
    »Nur irgendwie?« Fassungslosigkeit trat auf ihr Gesicht. Ihre Lippen bebten, als sie losschrie: »Sie Idiot, Sie verfluchter, eingebildeter Idiot …« Melchior formte ihre Hände zu Fäusten und hämmerte auf ihn ein. Mit jedem Mal wurden ihre

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