Schwarzer Neckar
Dutzend Mal geklingelt hatte, drückte sie den Knopf, um das Gespräch entgegenzunehmen.
»Was soll das?«, schlug ihr eine ärgerliche Stimme entgegen, bevor sie sich melden konnte.
»Wieso habe ich plötzlich das Gefühl, dass der schönste Teil dieses Morgens schon vorüber ist?«, entgegnete sie.
Der Mann am anderen Ende der Leitung lachte. »Ich wollte nur wissen, ob an Ihrem ersten Tag alles glattging.«
Sie ließ einen Augenblick verstreichen, bevor sie antwortete: »Ja, natürlich.«
»Und, warum so zaghaft?«
Erneut zögerte Melchior. Sie umklammerte das Mobiltelefon, als ob sie sich daran festhalten wollte. »Das war das letzte Mal.«
Diesmal blieb es am anderen Ende der Leitung für einige Sekunden ruhig. Nur das Rauschen der Verbindung drang an ihr Ohr. »Das entscheiden nicht Sie – das sollte Ihnen klar sein«, sagte der Mann.
»Wie lange soll das noch so weitergehen? Alle paar Monate eine neue Stelle, eine neue Wohnung – ein neues Leben.«
»Dafür können wir nun wirklich nichts. Das haben Sie sich selbst eingebrockt.«
»Das ist über zwanzig Jahre her.«
»Frau Melchior, wie ich schon sagte, das entscheiden andere. Am besten Sie tun jetzt genau das, zu was Sie beauftragt wurden. Schließlich wollen wir alle beschauliche Weihnachten feiern.«
»Klar. Mach ich doch immer«, erwiderte sie.
»Gut, dann sind wir ja d’accord.«
Sie drückte auf den Knopf, um das Gespräch zu beenden und murmelte: »Nein, Arschloch, wir sind nicht d’accord.«
***
Der Morgen begann für Treidler mit einem schmerzfreien Kopf und unerwartet positiver Stimmung. Die Vorteile vom weniger Alkohol Trinken und früher ins Bett Gehen überwogen eindeutig. Er schwor zum tausendsten Mal, sich zukünftig daran zu halten. Seine gute Laune hielt über das Duschen hinweg bis zum Frühstück. Zwei Toastbrote mit Streichkäse und ein paar Tassen Espresso. Zufrieden nahm er zur Kenntnis, dass sich der kleine Kaffeelöffel nur zäh durch das Gebräu ziehen ließ. Er machte den Fehler, nach draußen zu schauen. Der nächste Bissen blieb ihm im Halse stecken. Es hatte die ganze Nacht geschneit. Außer dem Weiß des Schnees schien es auf der Welt keine andere Farbe mehr zu geben. Straßen, Dächer, Bäume: Fast alles verschwand unter einer dicken Flockenschicht. Die weiter angewachsene Schneedecke würde zu einem weitaus größeren Verkehrschaos führen als am Tag zuvor. Und immer noch besaß er weder einen Eiskratzer noch eine Schneeschaufel.
Treidler benötigte fast eine Viertelstunde, um sein Auto von den Schneemassen zu befreien und nochmals genauso lange, um Melchior in der Rottweiler Innenstadt abzuholen. Sie hatte sich dort in einer Frühstückspension einquartiert, bis sie eine Mietwohnung finden würde.
Da es in der Nähe der Pension keinen Parkplatz gab, und er keinerlei Lust verspürte, durch den tiefen Schnee zu stapfen, blieb er mit laufendem Motor kurzerhand auf der Straße stehen. Es interessierte sowieso niemanden. Bei diesen widrigen Verkehrsverhältnissen schlichen gerade mal zwei oder drei Autos an ihm vorbei.
Er drückte auf die Hupe und hoffte, dass Melchior ihn hörte. Kurze Zeit später stapfte dann auch eine tief vermummte Gestalt aus dem Haus und steuerte direkt auf seinen Wagen zu. Durch die fast ganz zugefrorene Seitenscheibe konnte er erkennen, dass Melchior um die Schulter einen Beutel von der Größe einer mittleren Reisetasche trug.
Sie drückte die Klinke und versuchte, die Tür zu öffnen. Nichts. Noch einmal. Die Tür bewegte sich keinen Millimeter. Sie klopfte an die Scheibe. »Treidler, schließen Sie doch auf.«
»Die Tür ist offen!«
»Nein, ist sie nicht. Sie geht nicht auf.«
»Dann ist sie halt zugefroren. Das gibt es bei uns im Winter. Rütteln Sie stärker daran.«
Melchior tat wie ihr geheißen und rüttelte an der Tür. Ohne Erfolg. Mit einem ergebenen Seufzer schaltete Treidler den Motor aus. Er hob die Beine und drehte sich auf dem Sitz nach rechts, bis seine Füße zur Beifahrertür zeigten. »Ziehen Sie jetzt!«, rief er und presste seine Beine mit aller Macht gegen die Seitenverkleidung.
Schlagartig sprang die Tür auf. Melchior konnte sich gerade noch festhalten, um nicht rücklings in den Schnee zu fallen. Nach einem Augenblick des Schreckens fasste sie sich wieder und beugte sich in das Fahrzeug.
»Morgen«, brummte sie und musterte den Innenraum, bis ihr Blick an Treidlers nassen Schuhen auf dem Beifahrersitz hängen blieb. »Ich hoffe, Sie haben saubere
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