Schwarzer Neckar
Melchior zuvor.
»Das Motiv für diesen Mord liegt weit in der Vergangenheit. Wir müssen tief graben – sehr tief.«
***
Das Einzige, das dir bleibt, ist deine helle, klare Stimme. Schließlich kannst du singen wie ein Engel. Die Klosterschule hat dich sofort aufgenommen, als deine Mutter sagte, sie könne sich nicht mehr um dich kümmern. Denn deine Engelsstimme gehört immer noch zu den größten Erfolgen des Benthaler Klosters. Und bis heute weiß nur sie, dass du es gewesen bist, der das Fenster hat offen stehen lassen.
Als Kinderstar in der Klosterschule achten dich alle. Der Chor feiert große Erfolge mit dir. Und wenn du nicht allein bist, denkst du kaum noch an deine Mutter. Jeder möchte dein Freund sein, dich in der Gruppe haben oder Zeit mit dir verbringen. Im Unterricht kannst du dir alles erlauben. Nicht, dass du es nötig hättest. Aber viele Sachen langweilen dich, weil du nicht so schwer von Begriff bist wie die anderen. Und außerdem kennst du das meiste aus den bunten, handtellergroßen Kinderlexika deiner Oma, die jetzt dein Bücherbord im Zimmer schmücken. Allerdings nur die ersten neunzehn Bücher bis zum Buchstaben »V«. Das zwanzigste fehlt. Denn seit du im Klosterinternat bist, hat deine Oma dich nicht mehr besucht. Aber »V« bedeutet schließlich, fast alles zu wissen. Was gibt es schon Spannendes im letzten Buch, mit den letzten vier Buchstaben des Alphabets?
Abermals verändert sich alles in deinem Leben. Schneller, als du es wahrhaben willst. Etwas geschieht mit deiner Stimme. Von einem Tag auf den anderen hört sie sich fremd an. Viel tiefer und rauer, als ob jemand anderes aus dir sprechen würde. Zuerst denkst du, es sei eine Erkältung. Doch als es nach ein paar Tagen nicht besser wird, versuchst du es zu verbergen, verstellst deine Stimme. Der Chorprobe bleibst du ohnehin fern. Die Erkältung wird bald nachlassen, lügst du dich und den Chorleiter weiter an. Doch niemand nimmt dir das Märchen mit der mehrwöchigen Erkältung mitten im Sommer ab. Der Chorleiter sowieso nicht. Schon beim ersten Mal, als du dich nicht drücken kannst, weiß er Bescheid. Jeder weiß es: Stimmbruch. Ein einfaches Wort, das dennoch sämtliche Illusionen in dir zerstört. Kein Kinderstar, du bist nichts Besonderes mehr. Nur einer unter vielen. Ein Schüler in der Benthaler Klosterschule.
Nach dem Verlust deiner Engelsstimme gilt plötzlich dein Wissen aus neunzehn Kinderlexika nichts mehr. Außer einigen Lehrern interessiert sich niemand dafür. Es zählt nur noch die körperliche Kraft. Sie ist das Maß aller Dinge. Wie schnell bist du? Wie stark kannst du zuschlagen? Du brauchst Kraft, um dich gegen die anderen Jungs durchzusetzen. Doch davon hast du viel zu wenig. Deine Arme und Beine sind so dünn wie bei einem Mädchen, und beim Sport kommst du meist als Letzter an.
Schon nach wenigen Monaten möchte dich niemand mehr in seiner Mannschaft haben. Du bist derjenige, den man links liegen lässt, wenn man gewinnen will. Dauernd musst du an deine Mutter denken. Ihre blonden Haare, ihren Geruch und die weiche Haut. Sie fehlt dir mehr als alles andere auf der Welt. Wenn du allein bist, kommen dir die Tränen, und dann gibt es nur noch die bunten Kinderlexika, um dich abzulenken.
ZEHN
Ihre Stimme raubte ihm fast den Verstand. Aus den Lautsprechern klang Lisa so nah und gleichzeitig so unerreichbar, so vertraut und doch so fremd. Direkt vom Ohr drangen ihre Worte unter seine Haut und führten ihn wieder zurück zu jenem Freitagmorgen vor Weihnachten. Zu dem Tag, an dem er sie zuletzt gesehen hatte: dem 19. Dezember vor zwei Jahren.
Im Grunde war es ein Tag wie jeder andere gewesen. Fast. Wäre da nicht die Verabredung mit Birgit dazwischen gekommen. Er hatte sie Tage zuvor zufällig während der Mittagspause in der Stadt getroffen. Nach einer mehr als halbstündigen Unterhaltung verabredeten sie sich zum Abendessen beim Italiener. Da Treidler genau wusste, wie Lisa auf seine Exfreundin reagierte – besonders jetzt, nachdem sie ein Kind erwartete –, legte er die Verabredung kurzerhand auf den darauffolgenden Freitag. Lisa erzählte er die Geschichte mit der nächtlichen Observation, bei der er nicht absehen könne, wann und ob er nach Hause komme. So musste er sich mit keinem Wort für das Essen mit Birgit verteidigen. Und er zweifelte nicht daran, dass ihm Lisa die Lüge abnahm, denn schließlich ließ er auch die Squash-Stunde mit seinen Kollegen sausen.
Aus dem Essen beim Italiener wurde
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