Schwarzer Neckar
Dutzend Stapel Papiere, Mappen und Fotos, die er auf dem Esszimmertisch ausgebreitet hatte. Nichts. Er durchwühlte CD s und Zeitschriften auf der Ablage des Wohnzimmerregals. Ebenfalls nichts. Erst nach einer ganzen Weile entdeckte er die Hülle zusammengerollt zwischen zwei Büchern.
Treidler entnahm ihr die wenigen losen Seiten und ließ sich in den Sessel fallen. Jäh verließ ihn der Mut. Wollte er tatsächlich lesen, wie man ihn bewusstlos in der Küche gefunden hatte? Er versuchte, den bitteren Geschmack hinunterzuschlucken, der sich in seinem Mund ausbreitete. Es wollte nicht gelingen. Er griff nach dem Glas auf dem Wohnzimmertisch und leerte es in einem Zug. Erst nachdem er es erneut randvoll mit Wodka gefüllt hatte, fühlte er sich stark genug.
Auf der ersten Seite prangte ihm »Vernehmungsprotokoll Kriminalpolizei Rottweil« in dicken, gesperrten Lettern entgegen. Direkt darunter, in etwas kleineren Buchstaben, stand: »Mordsache Elisabeth Treidler«.
Obwohl es sich lediglich um die amtliche Bezeichnung dieses Falles handelte, verursachte schon die Überschrift des Protokolls ein beklemmendes Gefühl. Diese Aussage zu lesen würde vermutlich noch mehr von ihm abverlangen als die Aufzeichnung des Notrufes. Sein Herz begann zu rasen.
Hastig zog er das übervolle Glas mit Wodka vom Tisch und verschüttete dabei einen guten Teil. Den Rest kippte er hinunter. Doch die beruhigende Wirkung des Alkohols wollte sich nicht einstellen. Der Wodka brannte lediglich in seiner Speiseröhre und gleich darauf im Magen. Kurzerhand griff er nach der Flasche auf dem Tisch und nahm drei, vier große Schluck daraus. Er wartete, bis sich der Alkoholnebel in seinem Gehirn breitmachte. Eine Art Gleichgültigkeit stellte sich ein. Er begann zu lesen:
DATUM DER VERNEHMUNG:
20. Dezember
ORT DER VERNEHMUNG:
Polizeidirektion Rottweil, Zimmer 403
ANWESENDE ERMITTLER:
KHK Bernhard Winkler, KHK Friedhelm Kleinert
ZEUGEN:
POM Adrian Duffner, PM Lukas Meyer
AUSSAGE:
Beide Zeugen geben zu Protokoll, dass sie in der Nacht vom 19. auf den 20. Dezember in Rottweil auf der Hochbrücktorstraße Streife fuhren, als sie um 23:19 Uhr ein Funkspruch der Leitstelle erreichte. Sie wurden angewiesen, sich schnellstmöglich im Ahornweg 8 einzufinden, da von dort der Notruf einer Elisabeth Treidler ausgelöst wurde. Der Einsatz wurde von der Leitstelle als authentisch und offensichtlich gefährlich eingestuft.
Treidler sog scharf die Luft ein und nahm einen weiteren Schluck aus der Wodkaflasche. Als »offensichtlich gefährlich« wurden Einsätze nur dann bezeichnet, wenn die Leitstelle Grund zur Annahme hatte, dass eine lebensbedrohliche Situation vor Ort nicht ausgeschlossen werden konnte. In solchen Situationen sollten sich die Beamten nur mit äußerster Vorsicht nähern und nach eigenem Ermessen von der Schusswaffe Gebrauch machen.
POM Duffner wies eine sofortige Signalfahrt an, und die beiden Beamten erreichten 23:35 Uhr den Ahornweg. Sogleich fiel ihnen das Haus mit der Nummer 8 auf, rechts am Ende der Straße, weil alle Fenster hell erleuchtet waren. PM Meyer stellte das Fahrzeug mit eingeschaltetem Signallicht in der Einfahrt ab, und die Beamten stiegen aus.
Die Zwischenfrage von KHK Winkler, ob den Zeugen beim Einbiegen in den Ahornweg etwas Ungewöhnliches aufgefallen sei, verneinten beide.
Nachdem sie das Fahrzeug verlassen hatten, bemerkten die Beamten, dass die Haustür einen Spalt offen stand. Sie näherten sich mit gezogener, aber gesicherter Waffe dem Hauseingang.
Treidler versuchte, sich die Gesichter der beiden Polizisten in diesem Moment vorzustellen, wie sie mehr ängstlich als abwartend die Umgebung musterten. Er kannte den Polizeimeister Lukas Meyer nicht, doch er vermutete, dass es sich um einen dieser pickelgesichtigen Frischlinge gehandelt hatte. Meist hatten sie ihren Dienst bei der Bereitschaftspolizei erst kürzlich abgeschlossen und unternahmen die ersten Schritte im echten Polizeidienst.
Dafür kannte er Polizeiobermeister Duffner um einiges besser. Der freundliche Mittvierziger genoss großes Ansehen unter den Kollegen und bei den Bürgern der Stadt. Mit seiner kräftigen Gesichtsfarbe und dem etwas zu mächtig geratenen Oberlippenbart stellte er den Prototyp des gemütlichen schwäbischen Dorfpolizisten dar. Der Einsatzleiter teilte Duffner gern Neulingen zu, da er über eine endlose Geduld zu verfügen schien. Er bewahrte auch in den gefährlichsten Situationen einen kühlen Kopf und, was noch
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