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Schwarzer Neckar

Schwarzer Neckar

Titel: Schwarzer Neckar Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thilo Scheurer
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blieb keine Stunde mehr. Zu rasch richtete sich Treidler auf und konnte gerade noch einen Schwindelanfall abwenden. Er blieb eine Zeit lang auf der Bettkante sitzen, bis er sich stark genug fühlte, um gefahrlos aufzustehen. Mit zitternden Beinen schlurfte er Richtung Badezimmer.
    Wie die Wodkaflasche in das Waschbecken kam, konnte er sich beim besten Willen nicht erklären. Jedenfalls schwamm das Überbleibsel seines gestrigen Alkoholexzesses in einer trüben, seichten Brühe. Der Kommissar fischte die Flasche heraus, stellte sie auf den Beckenrand und ließ das Wasser ab. Unvermittelt erklang aus dem Schlafzimmer abermals Musik. Treidler zuckte zusammen. Offenbar war der Radiowecker durch die Snooze-Funktion erneut losgegangen. Er erschrak jedoch nicht ob der Lautstärke, sondern wegen des Musikstückes, das der Radiosender spielte: Es war Lisas Lied.
    Mit einem Schlag brachen all die Erinnerungen an sie hervor. Ihr erster Kinobesuch. »Barfuss« – Till Schweigers tragisch-komischer Liebesfilm. Ein Film, den er sich zuerst überhaupt nicht hatte anschauen wollen. Dann die Eisdiele danach, wo sie noch beim Bestellen so viel über den Film lachen musste, dass der Mann hinter der Theke schon ungeduldig wurde. Zwei Kugeln Pistazie. Vor lauter Lachen aß sie so langsam, dass das Eis zu schmelzen begann und an der Waffel heruntertropfte. Auch der Kuss im Auto, ihre weichen Lippen schmeckten nach Pistazie. Lisa war ihm plötzlich so nah, dass er sie spüren, sie riechen konnte. Er stellte sich vor, dass sie nur wenige Meter weiter im Bett lag, noch zu träge, um aufzustehen. Manchmal hatte sie als Nachthemd eines seiner ausrangierten T-Shirts an, die an den Schultern zu weit, aber viel zu kurz waren.
    Treidler hatte versucht, an alles Mögliche zu denken, seit sie nicht mehr war. Eine kurze Zeit war ihm die Ablenkung gelungen. Doch dann begannen die bohrenden Fragen, die ihn fast um den Verstand brachten. Warum nur hatte er sich an diesem Abend auf Birgit eingelassen? Warum kam er zu spät? Wann endlich hörte dieser Schmerz auf? Es fiel so unendlich schwer, ohne sie zu sein, etwas anderes zuzulassen. Er nahm die Wodkaflasche vom Beckenrand und schleuderte sie mit voller Wucht auf den Fliesenboden. Sie zerbrach in tausend Stücke. Er sackte auf die Knie, ließ sich nach vorne fallen und spürte die Scherben, die in seine Unterarme und Hände schnitten. Alles war jetzt egal – selbst die winzigen Glassplitter, die sich in die Stirn bohrten, als er seinen Kopf unter den Armen vergrub.
    Er wusste nicht, wie lange er so verharrt hatte. Ein brennender Schmerz in seinem Gesicht holte ihn in das Hier und Jetzt zurück. Treidler fuhr auf und wischte sich die Augen frei. Die Sonne warf aufdringlich ihre Strahlen durch das kleine Fenster. Die Glassplitter auf dem Fliesenboden reflektierten das Licht und verteilten es als winzige, helle Punkte im Badezimmer.
    Er setzte sich auf den Boden und lehnte seinen Oberkörper an die Badewanne. Er wollte nicht nach Florheim fahren, er wollte nicht zu der Beerdigung. Und am wenigstens wollte er Melchior sehen. Doch es gab keine Alternative, wenn er sich nicht die Pistole in den Mund stecken wollte.
    Im Schlafzimmer dudelte seichter Discofox, bis sich der Wecker nach einer Weile von allein abschaltete. Und in der Stille, die plötzlich über allem lag, fasste Treidler einen Entschluss. Er musste sich beschäftigen, sich ablenken, um nicht erneut in dieses tiefe Loch zu fallen. Er würde nach Florheim fahren und sich die Leute auf Novaks Beerdigung genauer anschauen.
    Trotz des sonnigen und fast warmen Wetters fanden sich auf dem Florheimer Friedhof nur wenige Menschen zu Johann Novaks Begräbnis ein.
    Neben dem Geistlichen in einer schlichten schwarzen Soutane und zwei halbwüchsigen, desinteressiert dreinschauenden Ministranten zählte Treidler nur sechs weitere Personen. Zwei jüngere, sehr korrekt und dunkel gekleidete Männer hielten sich dezent im Hintergrund. Zweifellos gehörten sie dem Beerdigungsinstitut an und warteten darauf, den Sarg aus hellem Holz hinunterzulassen.
    Das Grab mit dem schlichten Holzkreuz lag abgelegen am äußersten Ende des Friedhofes. Lediglich ein kleines Blumengesteck mit weißen Nelken schmückte die Ruhestätte. Ansonsten gab es weder Kränze noch Blumen. Kein Wunder – hatte sich Johann Novak doch mehr als sechzig Jahre nicht mehr in seinem Heimatdorf blicken lassen.
    Etwas abseits des Holzkreuzes stand Anton Novak. Er hielt den Kopf geneigt und starrte

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