Schwarzer Neckar
vor sich hin. Der unbeholfen wirkende Mann trug einen viel zu kleinen dunkelblauen Anzug und ein helles Hemd mit zerknittertem Kragen. Das Auffallendste an ihm war die völlig unpassende Krawatte in einem schreienden grün-roten Farbmix, der eher zu einer Fastnachtsveranstaltung gepasst hätte. Seine grauen, strähnigen Haare, die bei ihrem Besuch noch wirr heruntergehangen hatten, klebten mit einer dicken Schicht Pomade über seiner Halbglatze. Nur die Spitzen bewegten sich leicht, sobald der böige Wind aufflaute. Mit hängenden Schultern und regungsloser Miene verfolgte er die Grabrede des Dorfpfarrers.
Zwei etwa gleichaltrige Frauen, die Treidler noch nie zuvor gesehen hatte, umrahmten Edda Broghammer. Links von ihr stützte sich eine korpulente, weißhaarige Frau mit ihren fleischigen Händen auf einen Rollator, der unter ihrem Gewicht zusammenzubrechen drohte. Ihr Wollmantel mit Pelzbesatz an Kragen und Ärmeln war in die Jahre gekommen und schnürte sie besonders an Oberkörper und Hüfte ein. Treidler vermutete, dass die oberen beiden Knöpfe keine tiefen Atemzüge aushielten und deshalb offen standen. Unter dem Mantelstoff in einer undefinierbaren Farbe ragten ihre Beine hervor. Sie steckten in cremefarbenen Strümpfen. Das Nylon spannte sich über die unförmigen Waden wie eine Wurstpelle und würde vermutlich nicht mehr lange dem Druck der Fleischmassen standhalten. Das Gesicht der Frau wirkte dagegen klein und unscheinbar. Mit einem leidvollen Blick hing sie an den Lippen des Dorfpfarrers.
Halb verdeckt hinter der massigen Frau stand Edda Broghammer. Die Falten und Furchen auf ihrem Gesicht traten an diesem Morgen stärker hervor, als Treidler von der letzten Begegnung in Erinnerung hatte. Sie verliehen ihrem Antlitz müde und zugleich traurige Züge. Aber vielleicht entstand dieser Eindruck auch nur durch die tief stehende Sonne, und er bildete sich ihre Niedergeschlagenheit ein.
Auf Eddas rechter Seite verfolgte eine zierliche Frau mit schmalen Augen die Trauerfeier. Als Einzige der drei trug sie unter ihrem moosgrünen Filzmantel kein Kleid, sondern einen hellgrauen Hosenanzug. Die braunrote Farbe des maskulinen Kurzhaarschnittes wirkte bereits von Weitem unecht. Ihr resoluter Gesichtsausdruck ließ darauf schließen, dass sie mit ihren Gedanken woanders war. Obwohl Edda die Frau mit den kurzen Haaren nahezu einen Kopf überragte, wirke sie neben ihr wie ein zerbrechliches Mädchen. Beide hielten sich an den Händen. Treidler schloss daraus, dass sie eine enge Freundschaft verband.
Als die Dunkelhaarige Treidlers Blick bemerkte, ließ sie schnell Edda los und richtete ihren Oberkörper ein wenig auf. Dabei lag in ihren Augen etwas, das Treidler stutzig werden ließ. Noch war es ungreifbar und flüchtig wie schnelle Schatten. Aber seine Erfahrung sagte ihm, dass hinter der kleinen Frau mehr steckte, als sie den Anschein erwecken wollte.
Im Laufe der Jahre hatte er sie alle gesehen: die Gesichter, die etwas verbergen wollten. Am einfachsten machten es ihm die ängstlichen Menschen. Sie konnten keinen Blickkontakt aufnehmen oder senkten zu schnell ihre Augen. Andere versuchten, ihre Geheimnisse hinter einem dümmlichen oder überraschten Gesichtsausdruck zu verstecken. Auch das half nicht lange. Und schließlich gab es eben jenes starke, überheblich dreinschauende Gesicht, das durch pure Herablassung versuchte, ihn abzulenken. Und genau so jemanden sah er in ihr.
Aber die Tatsache allein, dass die Frau im grünen Mantel etwas verbarg, brachte ihn nicht weiter. Er musste wissen, was es war. Und dazu musste er mit ihr reden, und zwar bevor sie wieder zu Hause war.
Wenig später senkten die Männer vom Beerdigungsinstitut den Sarg ins Grab hinab. Treidler musterte den Pfarrer, der seinen Blick über die Trauergäste schweifen ließ und bei Anton Novak innehielt. Er trat auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. Dabei murmelte er ein paar Worte, und es schien, als ob ihn noch etwas davon abhielt, zu gehen. Erst nachdem ihm Novak etwas zugesteckt hatte, eilten er und die beiden Ministranten davon. Novak folgte mit kurzen, stampfenden Schritten hinunter zum Ausgang.
Inzwischen setzten sich auch die alten Damen in Bewegung. Mit dem Rollator dauerte es eine gute Weile, bis sie den Weg hinter sich gebracht hatten. Treidler wartete noch und machte sich erst auf den Weg, nachdem die drei sich außerhalb der Friedhofsmauern befanden.
Bevor er das schmiedeeiserne Gittertor am Ausgang erreichte, fuhr ein Taxi
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