Schwarzer Neckar
Treidler auf den Innenhof der Polizeidirektion. Ausgerechnet Winklers Parkplatz, der dem Eingang zur Schießanlage am nächsten lag, war frei. Kurzerhand stellte Treidler den Mercedes dort ab, schnappte sich Pistole und Mobiltelefon vom Beifahrersitz und schlenderte der eisernen Eingangstür entgegen. Eine Betontreppe führte in das Kellergeschoss, das sich nicht nur unter dem gesamten Gebäude, sondern bis zur anliegenden Straße ausbreitete. Treidler trat in die Zugangsschleuse, klingelte und zog eine Grimasse in Richtung Kamera. Es dauerte ungewöhnlich lange, bis endlich der Summer ertönte und der Zugang freigegeben wurde. Aber vielleicht bildete er sich das nur ein.
Zwei Streifenpolizisten, die mit einer unecht wirkenden Waffe hantierten, musterten ihn einen Augenblick zu lange. Die Räumlichkeiten hatten sich seit seinem letzten Besuch vor über zwei Jahren völlig verändert. Es gab keine separaten Bahnen mit Abschussplatz mehr, sondern ein großer Schießplatz breitete sich rechtwinklig zum Eingang aus. Auch mit dem Geruch des Raumes stimmte etwas nicht. Früher hatte es nach Schießpulver und Waffenöl gerochen. Heute jedoch nahm er lediglich einen unbestimmten Plastikgestank wahr. Vermutlich stammte er von dem neu verlegten Fußbodenbelag aus schwarzem Noppenmuster.
Nicht verändert hingegen hatte sich Bergmeier. Der Beamte, der seit bestimmt zehn Jahren über die Schießanlage wachte, musterte mürrisch wie eh und je den Ankömmling. Dabei hielt er seinen Kopf schief, blickte über den Brillenrand und trug Treidler in eine Liste vor sich ein. Obwohl es auf der Schießanlage fast so sauber wie in einem Operationssaal zuging, konnte sich Treidler nicht daran erinnern, Bergmeier jemals ohne blauen Arbeitskittel gesehen zu haben. Die lange Dienstzeit im Keller der Polizeidirektion hatte Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Trotz des jüngeren Alters war seine Haut faltig und erschien im Neonlicht grob und weiß wie eine Wand.
»Servus, Bergmeier«, begrüßte Treidler ihn. »Lange nicht gesehen. Meidest du immer noch das Sonnenlicht?«
»Selten so gelacht«, entgegnete Bergmeier. »Was zum Teufel führt dich hierher?« Er versuchte, ein überraschtes Gesicht zu ziehen, obwohl er Treidler schon vorhin in der Schleuse erkannt haben musste.
»Nach was sieht’s denn aus?«, gab Treidler zurück.
»Kannst du überhaupt noch schießen?«
»Deine Pappscheiben werde ich schon noch treffen.«
»Wir haben hier keine Pappscheiben mehr.« Bergmeier schob seine Brille zurecht.
»Was dann? Schießt die Polizei jetzt auf Fernseher?«
»Nicht ganz. Aber das Schießtraining hat sich in den letzten zwei Jahren ziemlich verändert. Aus dem Scheibenschießen ist ein digitalisiertes, lageorientiertes Training geworden.«
»Digitalisiertes was …?«
»Digitalisiertes, lageorientiertes Training«, wiederholte Bergmeier bemüht.
»Und zu was soll das gut sein?«
»Damit kannst du nicht nur deine Treffsicherheit erhöhen, sondern auch die Handhabung der Waffe in unterschiedlichen Situationen trainieren.«
»Ah so.«
»Dazu wurde die Schießanlage vollkommen umgebaut«, sagte Bergmeier. In seiner Stimme schwang unüberhörbarer Stolz mit. »Jetzt werden digitale Videosequenzen auf eine Leinwand projiziert. Der trainierende Beamte entscheidet spontan, ob der Einsatz der Schusswaffe rechtlich zulässig ist oder die Sachlage nicht auch anders zu lösen wäre. Alles interaktiv, versteht sich …«
»Interaktiv, natürlich.«
»Um die Lagetrainings noch realistischer zu gestalten, kann auch der nächtliche Einsatz mit einer Taschenlampe digital simuliert werden. Der Lampenstrahl erhellt die Videosequenz dann punktuell.«
»Hört sich richtig gut an«, entgegnete Treidler mit einem spöttischen Unterton. »Aber ich habe meine Taschenlampe nicht dabei – nur die Pistole. Und ich will keine Löcher in deine Leinwand schießen.«
»Du kannst sogar den Einsatz von Pfefferspray digital üben«, fuhr Bergmeier unbeirrt fort. »Das Gegenüber auf der Leinwand reagiert dann in Echtzeit und infrarot gesteuert auf deine Aktionen.«
Mit Pfefferspray hätte er den Russen in Stuttgart wohl kaum dazu gebracht, Melchior loszulassen. Ihn damit zu bewerfen, wäre gewiss eine schlechte Idee gewesen. »Kann ich trotzdem mit der Pistole auf irgendwelche Scheiben schießen?«, fragte Treidler.
Bergmeier hob missbilligend die Augenbrauen. »Für die Dinosaurier unter den Polizeibeamten gibt es noch eine Schießbahn drüben im alten
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