Schwarzer Purpur
wirklich leid. Ihr Vater ist bereits vor sechs Jahren gestorben. Der Privatdetektiv, den ich beauftragt habe, hat eine Kopie der Sterbeurkunde mitgebracht und einen kleinen Stapel Briefe, die die Vermieterin Ihres Vaters aufbewahrt hat, weil sie es nicht übers Herz brachte, sie wegzuwerfen.«
Nein, schoss es mir durch den Kopf. Das darf einfach nicht sein! Nicht jetzt, da ich mich endlich dazu entschlossen hatte, ihn zu suchen, ihm all die Fragen zu stellen, die seit so vielen Jahren auf eine Antwort warteten!
Ich hatte damit gerechnet, dass es lange dauern könnte. Ich hatte damit gerechnet, dass er neu geheiratet hätte, dass es Stiefgeschwister geben würde. Ich hatte mir sogar die Möglichkeit ausgemalt, dass er kein Interesse an mir hatte.
Aber dass er tot sein könnte, diese Möglichkeit hatte ich mir nicht zu fürchten erlaubt. Ich war so sicher gewesen, ihm eines Tages gegenüberzustehen, dass ich mir manchmal sogar seine Stimme vorgestellt hatte. Tief in meinen verschwommenen Kindheitserinnerungen gab es eine klangvolle, warme Männerstimme, aber ich hätte nicht zu sagen gewusst, ob es eine echte Erinnerung war oder ob ich mir nur wünschte, eine solche Stimme gekannt zu haben.
Jetzt würde ich es, wie so vieles andere, nie erfahren; und die Enttäuschung darüber ließ meine Stimme rau klingen, als ich mich zwang, Dr. Weydrich zu danken.
Ein paar Tage später bekam ich die Unterlagen. Die Kopie der Sterbeurkunde legte ich in meinen persönlichen Ordner, in dem ich auch meine Geburtsurkunde und Mutters Sterbeurkunde aufbewahrte.
Die Briefe drehte ich einige Zeit unschlüssig hin und her. Sie rochen staubig, muffig. Vermutlich nach der alten Küchenschublade, in der sie so lange gelegen hatten. Auf dem obersten konnte ich die verblichene blaue Tinte gerade noch lesen: Margarethe Corvaio. Es sah seltsam aus. Mutters Vorname mit dem unpassenden Nachnamen.
Von unten rief Monika nach mir, und ich schob die Briefe rasch in die Tasche, die ich nach London mitnehmen würde.
Als am Sonntagnachmittag vor unserem Abflug nach London das Telefon klingelte, brauchte ich einige Sekunden, bis ich Stevies heiser klingende Stimme erkannte und verstand, was er versuchte, mir zu erklären: »Irgendein Idiot in sie hineingefahren … Pistenrettung hat Hubschrauber angefordert … wird ins Krankenhaus geflogen … muss das Auto zurückfahren …«
»Welches Krankenhaus, weißt du welches?«, gelang es mir einigermaßen vernünftig zu fragen.
»Keine Ahnung – warte mal, ich frage einen der Sanitäter.« Stevie klang ebenso hilflos wie verängstigt. Ich hörte, verzerrt durch das statische Rauschen, wie er etwas fragte und eine ruhige Männerstimme ihm antwortete, aber ich verstand nichts.
»Gib mir den Mann«, schrie ich verzweifelt in den Hörer und fürchtete, dass Stevie in seiner Verwirrung das Handy wieder einstecken könnte.
»Was willst du denn von ihm?«, fragte er verständnislos, gab das Gerät aber offenbar weiter, denn eine beruhigend gelassene Stimme meldete sich mit »Rettungsdienst, guten Tag«.
Ich atmete erleichtert auf und bemühte mich, ruhig zu sprechen.
»Guten Abend, Verena Naumann. Ich bin die Freundin der Verunglückten. Können Sie mir sagen, in welches Krankenhaus Sie sie bringen?«
»In das nächste Bezirkskrankenhaus. Warten Sie, ich gebe Ihnen die Telefonnummer …« Meine Finger zitterten, aber ich schaffte es, die Ziffern leserlich aufzuschreiben. »Haben Sie es? Und keine unnötige Panik! Der junge Mann hier macht uns schon genug Sorgen.« Im Hintergrund hörte ich Stevie fast schluchzend darauf beharren, mit in den Hubschrauber steigen zu dürfen.
Wie lange mochte es dauern, bis sie gelandet waren und Mike ärztlich versorgt wurde? Zitternd vor Ungeduld gelang es mir, mich eine Viertelstunde zurückzuhalten, indem ich zigmal nur die Vorwahl wählte und dann den Hörer wieder auflegte.
Meine Erfahrung im Umgang mit Krankenhauspersonal erwies sich als hilfreich. Der Pförtner am Empfang zeigte mehr Mitgefühl als Professionalität und versicherte mir, die junge Dame vom Gletscher sei bereits wieder bei Bewusstsein gewesen, als man sie eben in die Chirurgie gefahren hätte, »und das ist immer ein gutes Zeichen!«. Ich sollte meine Telefonnummer hinterlassen, dann würde er mir Bescheid sagen, sobald es etwas Neues gäbe. »Und machen Sie sich keine unnötigen Sorgen«, tröstete er mich gutmütig, »diese Skiunfälle sehen immer schlimmer aus als sie sind.«
Trotzdem wanderte
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