Schwarzer Regen
Sache sehr genau. In der Mathematik gab es nicht »ein bisschen falsch«. Entweder stimmte eine Theorie hundertprozentig oder überhaupt nicht. Wenn auch nur eine geringe Abweichung im berechneten Datum lag, dann waren die Formeln zu seiner Ermittlung fehlerhaft.
Wieder und wieder überprüfte er seine Berechnungen, verglich die Position der Gestirne zu Nostradamus’ Zeit, |186| die sein alter PC für ihn berechnet hatte, mit den aktuellen Planetenkoordinaten. Wo war bloß der Fehler, verdammt? Hatte Nostradamus sich getäuscht, im Datum geirrt? Oder war alles am Ende doch bloß ein Hirngespinst, der Terroranschlag zu diesem Zeitpunkt nichts als Zufall? Nein, unmöglich! Er musste sich irgendwo verrechnet haben. Er musste …
Ein Knall ließ ihn herumfahren. Die Wohnungstür flog auf, und schwarz vermummte Gestalten mit Waffen im Anschlag stürmten herein. »Polizei! Auf den Boden!«
Langen stand langsam auf und hob die Hände. »Was …«
»Auf den Boden, hab ich gesagt! Flach hinlegen, Arme und Beine auseinander!«
Langen folgte zögernd der Aufforderung. Die Arme wurden ihm brutal auf den Rücken gerissen und gefesselt. »Aua! Was soll das? Ich habe doch nichts gemacht!«
Der vermummte Polizist ignorierte ihn. »Durchsucht die Wohnung!«, rief er den anderen zu. »Nehmt alle Aufzeichnungen mit. Vor allem den Computer!«
Langen wurde am Arm hochgerissen. Ein Mann in Zivilkleidung stand vor ihm. »Sind Sie Friedhelm Langen?«
»Ja, aber …«
»Waren Sie vor drei Tagen im Polizeirevier 13 und haben einen bevorstehenden Terroranschlag gemeldet?«
»Ja … das heißt … aber Ihr Kollege hat mir nicht geglaubt, und …«
»Das können Sie uns alles im Kommissariat erzählen. Sie sind vorläufig festgenommen wegen des Verdachts auf Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und Beihilfe zum Mord in mindestens zehntausend Fällen.«
»Aber ich habe doch nichts getan! Ich bin nur Mathematiker! Ich habe bloß alles ausgerechnet!«
|187| 41.
»Meinst du nicht, es reicht langsam?«, fragte Andreas.
Faller nickte. Ihr war übel, und sie fühlte sich müde und ausgelaugt. Sie waren kreuz und quer durch das Lager gelaufen und hatten sich die Geschichten der Menschen angehört. Es waren Geschichten für ein Dutzend
Rasant - Ausgaben
. Vielleicht, überlegte Faller, sollte sie ein Buch über die Katastrophe schreiben. Sie sah schon den Titel vor sich: »Karlsruhe«. Einfach nur der Name der Stadt, die jetzt weltweit genauso ein Begriff war wie Hiroshima.
Sie hatte mehr als genug Material, aber für eine wirklich große Geschichte fehlte noch etwas: der rote Faden, der Zusammenhang zwischen all den Schicksalen. Natürlich war es die Bombe, die alles miteinander verband. Aber das war zu einfach. Sie brauchte einen anderen, weniger offensichtlichen Aufhänger. Was war es, das all diese Menschen einte?
Die Ereignisse waren alle am selben Tag passiert, in derselben Sekunde ausgelöst worden. Nein, das war viel zu technisch, zu nüchtern. Sie brauchte etwas Emotionaleres. Den menschlichen Faktor.
Sie dachte an die vielen Gespräche, die sie geführt hatte. Da war zum Beispiel der Priester, der seinen Glauben verloren hatte. Sie hatte ihn, auf einer Kiste sitzend, getroffen, den Kopf in die Hände gestützt.
»Guten Tag. Ich bin Corinna Faller von der
Rasant
. Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«
Der Mann blickte auf. Seine schwarze Kleidung mit dem weißen Kragen wies ihn als Geistlichen aus. Seine Augen waren rot, als habe er geweint. »Ich … ich weiß nicht, ob ich noch Antworten habe«, sagte er.
|188| »Was meinen Sie damit?«
Der Priester zuckte mit den Schultern. »Gestern … gestern noch dachte ich, auf alle Fragen eine Antwort zu haben. Gott ist die Antwort, habe ich gedacht. Es war so klar, so einfach, so überzeugend.« Er schüttelte den Kopf. »Aber jetzt …«
»Glauben Sie jetzt nicht mehr an Gott?«
»Das ist es nicht«, sagte der Priester nach einem Moment des Zögerns. »Ich habe mein Leben lang gespürt, dass es Gott gibt, dass er bei mir ist. So ein Gefühl legt man nicht so schnell ab.«
»Was ist es dann?«, fragte Faller sanft.
»Ich … ich mag ihn nicht mehr. Gott, meine ich. Ich habe ihn geliebt. Aber jetzt … Wie kann ich einem Gott dienen, der … der so etwas zulässt?« Er machte eine Geste, die das Lager umfasste. »Ich meine, was hat das mit göttlicher Gnade zu tun, frage ich Sie? Ist das vielleicht Gerechtigkeit? Sind all diese armen Menschen vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher