Schwarzer Regen
gefallen?«
Der Experte nickte. »Das halte ich für wahrscheinlich. Sehen Sie, nach dem Ende der Sowjetunion herrschten eine Zeitlang chaotische Zustände im russischen Militär. Der Sold wurde nicht gezahlt, Soldaten desertierten zu Tausenden. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass in dieser Zeit einige Atombomben quasi verlorengingen.«
»Einige? Sie meinen, die Terroristen haben möglicherweise noch mehr Atombomben?«
Der Experte machte ein ernstes Gesicht. »Ich fürchte, ja.«
|183| Nora schaltete den Fernseher aus. Sie stand auf und holte ein Päckchen Zigaretten hervor. Ohne auf den missbilligenden Blick ihrer Freundin zu achten, zündete sie sich eine an.
»Nora, bitte, mach das Ding aus! Es ist dir doch so schwergefallen aufzuhören!«
Nora zuckte nur mit den Schultern und nahm einen tiefen Zug. Sie trat auf den kleinen Balkon hinaus in die Sonne. Fabienne gesellte sich zu ihr und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es wird schon wieder gut«, sagte sie. »Sie werden Karlsruhe wieder aufbauen, und eines Tages …«
»Nichts wird gut«, sagte Nora. »Die Bombe ist erst der Anfang. Du wirst sehen: Es wird Kriege geben, schreckliche Kriege. Ich hab immer Angst davor gehabt.« Sie lehnte sich an Fabiennes Brust und begann zu weinen.
»Es ist mir egal, was mit mir passiert«, schluchzte sie nach einer Weile. »Aber was wird bloß mit Yvi?«
Fabienne umarmte sie. »Mach dir nicht zu viele Sorgen. Denk an den elften September. Das Leben geht weiter. Terroristen können uns weh tun, aber sie können uns unsere Freiheit und Demokratie nicht nehmen. Es … es ist schlimm, was passiert ist, sehr schlimm. Aber wir werden damit fertig.«
Nora sagte nichts.
|184| 40.
Friedhelm Langen starrte auf die karierten Notizzettel, die den ganzen Küchentisch bedeckten und eng mit Zahlen und Gleichungen bekritzelt waren. Durch die zugezogenen Vorhänge seiner Dachwohnung fiel nur trübes Licht, aber er hatte gute Augen und konnte problemlos alles lesen. Verdammt noch mal, wo war bloß der Fehler?
Als gestern die Erschütterung zu spüren gewesen war, hatte er an ein leichtes Erdbeben gedacht. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass der Strom ausgefallen war. Da er keinen Fernseher besaß und nur selten Radio hörte, hatte er zunächst gar nicht mitbekommen, dass
es
passiert war.
Erst heute Morgen, als er einkaufen gehen wollte und vor der geschlossenen Lidl-Filiale stand, war ihm klargeworden, dass etwas nicht stimmte. Als er in seine Wohnung zurückkehrte, hatte er im Treppenhaus Herrn und Frau Wolters getroffen, die sich immer darüber aufregten, dass er die Treppe nicht ordentlich fegte. Sie waren mit Koffern und Reisetaschen schwer beladen.
»Guten Morgen, Herr und Frau Wolters«, sagte er freundlich. »Fahren Sie in den Urlaub? Soll ich mich wieder um die Pflanzen kümmern?«
Die beiden sahen sich verwundert an. »Ja … wollen Sie denn nicht fort?«, fragte Frau Wolters.
»Fort? Ich? Nein, wieso?«
»Na, wegen der Wolke …«
»Was denn für eine Wolke?«
»Sie haben es wohl noch gar nicht mitgekriegt, das mit Karlsruhe, was?«, fragte Herr Wolters.
|185| Langens Nackenhaare stellten sich plötzlich auf. »Mit Karlsruhe? Was ist mit Karlsruhe?«
»Hören Sie denn kein Radio?«, fragte Frau Wolters. »Es gab einen Terroranschlag. Mit einer Atombombe. Und jetzt ist eine radioaktive Wolke hierher unterwegs.«
»Komm, Gerda«, sagte Herr Wolters. »Wir sind schon spät dran.« Er schob seine Frau die Treppe hinab.
»Sie sollten lieber auch von hier fortgehen«, rief ihm Frau Wolters noch nach, doch Langen hörte sie kaum. Er rannte die Treppen hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Als er seine Wohnung erreichte, schaltete er keuchend das Radio ein.
Wenige Minuten später hatte er Gewissheit. Es war passiert. Es war wirklich passiert!
Zuerst hatte ihn ein Gefühl der Euphorie durchströmt, auch wenn es Karlsruhe und nicht, wie von ihm vermutet, Stuttgart getroffen hatte. Wie lange war er als Spinner beschimpft worden – verspottet von denen, die nicht begriffen, nicht zuhören wollten! Nun würden sie alle einsehen, dass er recht gehabt hatte.
Doch dann war ihm klargeworden, dass etwas nicht stimmte. Es hätte gar nicht passieren dürfen, nicht jetzt schon. Der Termin, den er berechnet hatte, war erst in zweieinhalb Wochen! Man hätte vielleicht sagen können, darauf komme es nicht an bei einer Prognose über einen Zeitraum von mehr als vierhundert Jahren. Doch Langen war Mathematiker, er nahm die
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