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Schwarzer Regen

Schwarzer Regen

Titel: Schwarzer Regen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl Olsberg
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bist.«
    Max zog eine Schnute. »Später, wenn ich größer bin, das sagt Mami auch immer. Dabei bin ich doch schon viel größer geworden! Letztes Jahr, da war ich noch so klein!« Er zeigte auf die Höhe seines Bauchnabels.
    |218| Lennard lächelte, und ehe er sich selbst daran hindern konnte, wuschelte er durch Max’ Haar, so wie er es immer bei Ben gemacht hatte. »Du wirst bestimmt ganz schnell richtig groß, und dann wirst du ein guter Kämpfer!«
    Fabienne Berger steckte den Kopf zur Tür hinein. »Essen ist fertig!«
    »Och nö«, maulte Max. »Wir spielen doch gerade so schön!«
    »Komm«, sagte Lennard. »Wenn du ein großer Kämpfer werden willst, brauchst du starke Muskeln. Und die kriegt man nur, wenn man ordentlich isst!«
    »Na gut«, sagte Max fröhlich und folgte seiner Mutter in die Küche.
    Die Spaghetti waren etwas zu lange gekocht, aber sie schmeckten Lennard trotzdem vorzüglich.
    »Die Spaghetti sind ein bisschen zu weich geworden«, sagte Berger.
    »Sie sind sehr gut«, widersprach Lennard.
    Es war seltsam, mit ihr und Max so am Küchentisch zu sitzen und Spaghetti zu essen. Als sei das das Normalste der Welt, als sei nichts geschehen. Ben hatte auch immer gern Spaghetti Bolognese gegessen, wie alle Kinder, und Martina hatte sie immer zu lange gekocht. Für einen Moment überlagerte sich das Bild aus seiner Erinnerung mit der Realität und verursachte ein Gefühl der Desorientierung. Noch vor ein paar Stunden hätte er alles getan, um eine Begegnung mit Berger zu vermeiden. Obwohl der Schrecken, den er empfunden hatte, als sie seine Fotoausdrucke entdeckt hatte, von der Katastrophe überlagert worden war, war ihm die Erinnerung daran sehr unangenehm. Doch wenn Fabienne Berger überhaupt noch daran dachte, so war ihr nichts anzumerken. Er war den Skinheads fast dankbar dafür, dass sie ihm die Gelegenheit gegeben hatten, sich in ihren Augen zu rehabilitieren.
    |219| »Was ist mit dir? Hast du auf ein Pfefferkorn gebissen?«
    »Max!«, rief Berger und warf ihm einen entsetzten Blick zu.
    Aber Lennard lächelte. »Ja, genau«, sagte er.
    Den Rest der Mahlzeit schwieg Max. Vielleicht traute er sich nach der Ermahnung durch seine Mutter nicht mehr. Lennard fand das ein bisschen schade, denn die Stille schien auf der kleinen Küche zu lasten.
    »Vielen Dank«, sagte Lennard nach dem Dessert, einer selbstgemachten Quarkspeise mit Sauerkirschen. »Es ist schon lange her, dass ich so gut gegessen habe.«
    Fabienne Berger lächelte. »Es ist das mindeste, nach allem, was Sie für uns getan haben! Möchten Sie vielleicht noch einen Kaffee?«
    Lennard zögerte nur eine Sekunde. Er durfte ihre Höflichkeit nicht strapazieren. »Nein, danke. Ich hab zu viel Kaffee getrunken in letzter Zeit.« Er stand auf und stellte sein Geschirr auf die Spüle. »Tschüs, Max!«
    Der Junge wirkte ein bisschen enttäuscht. »Tschüs, Lennard!«
    Seine Mutter begleitete ihn durch die kurze Diele bis zur Tür. »Danke«, sagte sie.
    Er hatte plötzlich Angst zu gehen. Ihm wurde fast schmerzhaft bewusst, wie sehr er die Stunde hier in ihrer Wohnung, den Anschein von Normalität genossen hatte.
    Ihre Blicke trafen sich. Ein oder zwei Sekunden vergingen, ohne dass einer der beiden etwas sagte oder sich rührte. Es war einer jener magischen Momente, in denen sich Möglichkeiten konzentrierten wie an einer Wegkreuzung mitten in der Wildnis. Er hätte ihr sagen können, dass er sie wiedersehen wollte. Er hätte ihr von Ben erzählen können und von dem Mann, dessen Schädel durch Lennards Kugel zerplatzt war und der sich noch im Tod bitter an ihm gerächt hatte. Er hätte seine Hand nach ihr ausstrecken, |220| sie leicht am Arm berühren können. Er hätte sie an sich ziehen und küssen können.
    Doch er tat nichts dergleichen. Er sagte einfach »Auf Wiedersehen!«, trat durch die Tür und ging.
    »Auf Wiedersehen!«, rief sie ihm nach. In ihrer Stimme hörte er keine Enttäuschung.
    Er fuhr seinen Wagen, der immer noch neben der Bushaltestelle stand, in die Tiefgarage. Als er seine Wohnung erreichte, legte sich plötzlich Müdigkeit über ihn wie eine große, warme Decke. Da es nichts gab, was ihn davon hätte abhalten können, zog er die schweren Vorhänge vor sein Schlafzimmerfenster und ging zu Bett. Morgen würde er wieder Bens Grab besuchen. Davor würde er in dem kleinen Blumenladen einen frischen Strauß roter Rosen kaufen.
    Es war das erste Mal seit langem, dass sich Lennard auf etwas freute.

|221| 46.
    Corinna Faller

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