Schwarzer Regen
sah sich um. Das Bett neben ihm war leer. Gestern hatte dort noch ein älterer Mann gelegen, apathisch und stumm. Er hätte eigentlich auf der Intensivstation liegen sollen, aber Gerd wusste, dass dort kein Platz war für die Strahlenopfer, die ohnehin nicht mehr zu retten waren.
Er sah den Blicken der Ärzte schon seit Tagen an, dass sie ihm keine Chance gaben. Zu lange war er den Strahlen ausgesetzt gewesen, hatte zu viel verseuchten Staub und Rauch eingeatmet. Zwei Stunden hatte er zwischen seinen toten Freunden in dem verfluchten Raum im Polizeipräsidium von Karlsruhe gelegen, unfähig, sich zu rühren oder auch nur auf sich aufmerksam zu machen. Ben habe ihn im Stich gelassen, hatte er damals geglaubt und seinen Freund verflucht. Erst später hatte er das wahre Ausmaß der Katastrophe begriffen.
Als man ihn endlich gefunden hatte, wäre er beinahe in einem Leichensack gelandet. Die Soldaten in den Strahlenschutzanzügen hatten kaum glauben können, dass er noch lebte. Sie hatten ihn mit dem Hubschrauber in ein Notlager |210| gebracht und zwei Tage später ins Universitätsklinikum Eppendorf nach Hamburg verlegt.
Die Haare und Zähne waren ihm ausgefallen, und am ganzen Körper war seine Haut aufgeplatzt. Ohne die starken Schmerzmittel, die ihm die Ärzte gespritzt hatten, hätte er sicher versucht, sich das Leben zu nehmen. Als er begriff, dass er Opfer eines Terroranschlags mit einer Atombombe geworden war, wusste er, dass seine Überlebenschancen nahe null waren. Das Polizeipräsidium war nur etwa einen Kilometer vom Zentrum der Explosion entfernt gewesen. Dass er überhaupt noch lebte, grenzte an ein Wunder.
Doch entgegen seiner Erwartung besserte sich sein Zustand. Die Schmerzen ließen nach, die Haut erholte sich, die Übelkeitsschübe wurden seltener. Nach zwei Wochen war er überzeugt, die Folgen der Verstrahlung überwunden zu haben und das Krankenhaus bald verlassen zu können. Die Ärzte dämpften jedoch seinen Optimismus. Die Strahlenkrankheit verlaufe typischerweise so, dass die Opfer sich zunächst besser fühlten. Es sei noch zu früh, um das tatsächliche Ausmaß der Schäden zu beurteilen. So hatte sich die Angst erneut auf seine Brust gelegt und war mit jedem Tag schwerer geworden.
Tatsächlich hatte er bald gespürt, wie recht die Ärzte hatten. Er bekam erneut Ausschlag, auf der Haut bildeten sich eitrige Schwären, die trotz aller Salben nicht verheilen wollten. Er bekam Fieber und sank in einen Dämmerzustand, der mehrere Tage anhielt.
Nur eines hielt ihn während all dieser Zeit bei Verstand: eine tiefe, heiße Wut auf diejenigen, die ihm das angetan hatten – ihm und Ben, Martin, Willi, Hannes und all den anderen, die in Karlsruhe gestorben oder schwer verletzt worden waren.
Er wusste, dass die Aussichten gering waren, sich jemals |211| für diese Tat rächen zu können. Seine Zeit war fast abgelaufen. Bei diesem Gedanken drängten Tränen in seine müden Augen. Das Leben in seinem zerschundenen Körper war kaum zu ertragen, und dennoch wollte er nicht sterben.
Er versuchte, den Übelkeitsschub niederzukämpfen, der sich seiner bemächtigte. Ein heftiger Hustenreiz schüttelte ihn, doch er hatte nicht die Kraft, den Schleim aus seinen Bronchien abzuhusten. Er fühlte sich, als drücke jemand seine Luftröhre zu. Panik stieg in ihm auf. Er versuchte, so gut es ging, ruhig einzuatmen – je mehr er sich verkrampfte, desto schwerer war es, das wusste er inzwischen. Er drehte sich auf die Seite. Nach einer halben Minute fiel ihm das Atmen etwas leichter.
Endlich kam der Arzt, zusammen mit der hübschen Krankenschwester. Er machte sich nicht die Mühe, Gerd nach seinem Zustand zu fragen. Stattdessen sah er nur kurz in seine Pupillen, dann gab er ihm eine Spritze, notierte etwas auf dem Klemmbrett und ging.
Die Krankenschwester blieb noch zurück. Gerd versuchte, ihr Namensschild zu lesen, doch die Schrift verschwamm vor seinen Augen.
»Sie haben Besuch«, sagte sie. »Wenn Sie sich dazu in der Lage fühlen.«
Besuch? Wer sollte ihn besuchen? Seine Eltern waren in Karlsruhe umgekommen, zum Rest der Verwandtschaft hatte er schon seit Jahren keinen Kontakt mehr. Falls es einer von ihnen war, der ihn jetzt sterben sehen wollte, konnte er sich zum Teufel scheren. »Wer?«, wollte er fragen, doch seine Stimme versagte den Dienst.
Die Schwester verstand seine Frage dennoch. »Es ist ein Politiker. Ludger Freimann, der Vorsitzende der Partei des Deutschen Volkes.«
Gerd runzelte die
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