Schwarzer Regen
einmal gehabt hatte. Vermutlich hatten die Räumkommandos das Wrack absichtlich dort oben liegen lassen, als eine Erinnerung an die ungeheure Wucht der Explosion.
»Wow!«, sagte Chris bei diesem Anblick. Sie zückte ihr Handy und schoss ein Foto.
Je mehr sie sich dem Zentrum der Explosion näherten, desto weniger war von den ursprünglichen Zerstörungen zu erkennen. Viele Gebäude waren abgerissen worden; nur tiefe Baugruben kündeten noch davon, dass hier einmal Menschen gelebt hatten. Es war, als sei der Leichnam der Stadt zur Obduktion freigegeben worden. In den Nachrichten hatten sie gesagt, der Bundestag und das Europaparlament hätten beschlossen, ein gewaltiges Sondervermögen bereitzustellen, um die Stadt wieder aufzubauen. Dennoch würde es wohl Jahre dauern, bis hier wieder ein geregeltes Leben stattfinden konnte.
Schließlich erreichten sie eine Grube von enormen Ausmaßen. Sie hatte einen Durchmesser von über zweihundert Metern und war so tief, dass man darin ohne weiteres ein zehnstöckiges Haus hätte vergraben können. Die Ränder glänzten, als seien sie mit flüssigem grünlichem Glas überzogen worden.
Der Bombenkrater.
Einen Moment blieben sie stehen, hielten einander bei den Händen und starrten in die Tiefe. Die Kraft, die dieses Loch gerissen hatte, war kaum vorstellbar.
|283| Leon spürte plötzlich ein überwältigendes Bedürfnis nach Nähe. Er nahm Chris in die Arme und presste sie an sich. Sie wehrte sich nicht. Ihr ganzer Körper begann zu beben. Sie barg ihr Gesicht an seiner Brust und weinte.
Er streichelte ihren Rücken. Er hatte in den letzten Wochen oft an Lisa denken müssen, an ihren Kuss, an ihr entsetztes, gerötetes Gesicht. Er hatte geträumt, sie so zu halten, wie er jetzt Chris hielt, doch die Druckwelle der Explosion hatte sie ihm einfach aus den Armen gerissen, immer wieder.
»Au, du tust mir weh«, sagte Chris.
Jetzt erst merkte Leon, dass er sie zu fest umklammerte. Sie konnte kaum noch atmen.
»Entschuldige«, sagte er.
Sie wischte ihm eine Träne von der Wange, nahm ihr Seidentuch vom Gesicht und küsste ihn auf den Mund.
»Wie … wie können Menschen nur so …
gemein
sein?«, fragte sie, als sie sich endlich voneinander lösten.
Leon wusste darauf keine Antwort.
|284| 57.
Der junge Mann wirkte noch bleicher als in den Fernsehbildern. Sein Gesicht war aufgequollen, seine Augen glänzten fiebrig. Corinna Faller blieb unbewusst einen Schritt vor dem Krankenbett stehen, das in einem großzügigen, lichtdurchfluteten Raum des PDV-Gästehauses stand. »Guten Tag, Herr Wesel. Mein Name ist Faller. Ich … ich weiß, es muss anstrengend für Sie sein, meine Fragen zu beantworten, aber …«
»Schon gut«, sagte Gerd Wesel. Seine Stimme wurde von einem leisen Pfeifgeräusch beim Einatmen untermalt. »Ich fühle mich okay.«
Sein Anblick strafte seine Worte Lügen. Er löste eine tiefe Beklemmung in Faller aus. War das ihre Zukunft? Würde auch sie bald so daliegen und buchstäblich aus dem letzten Loch pfeifen?
»Sie … waren in Karlsruhe, als es geschah?«
Er verzog sein Gesicht. »Sieht man das nicht?«
»Äh, natürlich … ich meine … wo genau waren Sie?«
Er erzählte ihr, wie er auf dem Schlossplatz mit den demonstrierenden Moslems aneinandergeraten war. Die Journalistin erinnerte sich daran, mit den jungen Männern gesprochen zu haben, doch das aufgedunsene Wesen vor ihr schien mit keinem von ihnen Ähnlichkeit zu haben. Wesel fuhr fort zu beschreiben, wie er verhaftet worden war, wie er unter Trümmern begraben dagelegen hatte und sein Freund loszog, um Hilfe zu holen – Hilfe, die erst zwei Stunden später ankam. »Ich habe Ihren Artikel gelesen«, sagte er und wies auf die sechs Wochen alte
Rasant - Ausgabe
auf seinem Nachtschrank. »Mein Freund Benedikt |285| Walter ist darin abgebildet. Aber Sie haben den falschen Namen unter das Bild gesetzt.«
Faller schlug die Zeitschrift auf. Sie erinnerte sich an die Leiche und an den Vater, den sie kurz angesprochen hatte. Er war es gewesen, der ihr den Titel für ihren Artikel gegeben hatte. Nur wegen dieses Artikels war es ihr überhaupt möglich gewesen, hierherzukommen und mit Gerd Wesel zu sprechen. Sämtliche Medien berichteten über ihn. Die Opfer von Karlsruhe hatten nun ihre Symbolfigur – einen tapferen jungen Mann, der über all das Grauen die Liebe zu seinem Land an die erste Stelle hob. Er wurde als Held gefeiert, obwohl an seinem Bericht eigentlich wenig Heldenhaftes war. Viele
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