Schwarzer Regen
sich nicht entfernen.
Er nahm einen Schluck Wasser und setzte noch einmal neu an. Diesmal klang seine Stimme etwas fester. »Liebe Freunde, wie ihr seht, bin ich … bin ich nicht so gut in Form.« Vereinzelte Lacher wurden rasch von betretenem Schweigen erstickt. »Die Bombe hat mir meine Gesundheit genommen. Sie hat meine Eltern umgebracht, meine Kameraden und besten Freunde. Martin Schreiber, Hannes Holtkötter, Willi Dietrich und Benedikt Walter waren mit mir in den Schlosspark unterwegs. Wir wollten … wollten einfach ein bisschen Spaß haben. Auf dem Schlossplatz war eine Demonstration von Moslems, gegen … gegen …«
Kalter Schweiß trat auf Gerds Stirn. Die Scheinwerfer, die auf ihn gerichtet waren, schienen fast so grell wie der Blitz. Er bekam eine Angstattacke, die er nur mühsam niederkämpfen konnte. Besorgtes Gemurmel schlug ihm aus der Menge entgegen.
Er fasste sich. »Gegen das Urteil«, fuhr er fort. »Wir bekamen Streit mit den Demonstranten und wurden festgenommen.« Empörte Rufe erschollen. »Zum … Zeitpunkt der Explosion waren wir nur einen Kilometer von der Bombe entfernt. Es ist … ein Wunder, dass ich … dass ich hier stehe und vor euch sprechen kann!«
Beifall brandete auf. Die Menge zollte ihm Respekt. Das beflügelte Gerd.
|277| »Meine Freunde sind alle tot.« Er machte eine kurze Pause und blickte in die Menge. Dann sagte er einen Satz, der nicht in Ludgers Redemanuskript stand: »Und ich … und ich werde wohl auch bald sterben.« Er wusste, dass es stimmte, auch wenn ihm Dr. Adam immer wieder Mut zusprach.
Die Menge war geschockt. Die Stille wurde nur von einzelnen Schluchzern unterbrochen.
»Die Bombe hat mir meine Gesundheit genommen«, fuhr er fort. »Aber sie hat mir nicht meinen Stolz genommen. Ich bin stolz darauf, ein Deutscher zu sein! Niemand kann mir diesen Stolz nehmen! Niemand!«
Jubel brandete auf. Die Menschen brüllten ihm ihre Begeisterung und Unterstützung entgegen, und plötzlich fühlte Gerd sich leicht wie eine Feder, so als trügen ihn die Stimmen empor. Alle Schwere, alle Schmerzen, alle Angst fielen von ihm ab. Er verkörperte den unbändigen Überlebenswillen der Menschen hier, den Willen des ganzen deutschen Volkes. Er war in diesem Moment unbesiegbar, unsterblich. Jetzt begriff er, wie kläglich sein Redetext gewesen war im Vergleich zu den Worten, die Ludger für ihn aufgeschrieben hatte. Er war dem Parteichef unermesslich dankbar dafür.
»Meine Familie und meine Zukunft sind in der Flammenhölle von Karlsruhe verbrannt«, rief er, und seine Stimme scholl plötzlich klar und kräftig aus den Lautsprechertürmen. »Doch mein Herz brennt in Liebe für mein Land, und es wird immer weiter brennen … brennen für Deutschland!«
Wieder brandete Jubel auf. Die Menge griff die Worte seines letzten Satzes auf: »Deutschland … brennen … muss brennen … Deutschland muss brennen …«
Während man ihm zujubelte, kamen Gerd die Tränen – Tränen der Ergriffenheit und Rührung, Tränen des Stolzes. Er hatte es geschafft. Was er gesagt hatte, machte einen |278| Unterschied. Erfüllt von der enormen Kraft des Augenblicks hob er eine Hand zum Abschied, drehte sich um und schritt auf den Bühnenrand zu. Ludger, der begeistert klatschte, kam ihm entgegen.
Bevor Gerd seinen neuen Freund erreichen und umarmen konnte, knickten ihm die Beine weg, und um ihn wurde es dunkel.
|279| 56.
»Ich habe Angst, Leon!«
Er wandte sich genervt um. »Ich hab dir schon gesagt, du musst nicht mitkommen!«
Chris verzog ihren hübschen Mund und sah ihn unter ihren tief ins Gesicht hängenden Haaren trotzig an. »Wenn du gehst, gehe ich auch!«
»Dann hör auf zu jammern!« Leon wusste, dass er unfair zu ihr war. Er hatte Christina erst gestern auf der Demo kennengelernt. Sie hatte wie er selbst ihre Eltern in Karlsruhe verloren und lebte nun bei einer Freundin ihrer Mutter, einer alleinstehenden Lehrerin, in Bruchsal. Leon und seine überlebenden Freunde, mit denen er sich auf der Demo verabredet hatte, übernachteten in der Turnhalle der Schule von Chris’ Pflegemutter. Nach dem bewegenden Auftritt von Gerd Wesel und der mitreißenden Rede des Parteivorsitzenden Ludger Freimann hatte eine Rockband deutsche Lieder über Kameradschaft und Vaterlandstreue gespielt. Die Musik hatte Leon nicht besonders gefallen.
Jan-Ulrich, einer von Leons Freunden, hatte die anderen aufgefordert, »es den Schweinen heimzuzahlen«, doch Leon lehnte Gewalt und Rache an Unbeteiligten
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