Schwarzer Regen
ebenso ab wie die meisten seiner Freunde. So hatte Jan-Ulrich sie alle als »Weicheier«, »Linke« und »Terrorsympathisanten« beschimpft und sich einer Gruppe besoffener Skinheads angeschlossen. Leon war mit den anderen zur Schule gezogen, wo sie auf einer Wiese ein Lagerfeuer gemacht, Bier getrunken und zum ersten Mal seit Wochen wieder etwas zu lachen gehabt hatten. Irgendwann, wie und warum |280| wusste er nicht mehr genau, hatten sich Leon und Chris in den Armen gelegen.
Er hatte kein Recht, sie aus purem Egoismus in Gefahr zu bringen. Außerdem war ihm selbst auch ziemlich mulmig zumute. Und doch zog ihn der Ort, an dem es passiert war, magisch an. Er musste sich dem schrecklichen Ereignis stellen, das sein Leben so aus der Bahn geworfen hatte, der Katastrophe noch einmal ins Antlitz sehen. Die Gefahr, seine Strahlenkrankheit durch weitere radioaktive Belastung noch zu verschlimmern, war ihm durchaus bewusst, doch er musste das Risiko eingehen.
Es war nicht schwer, den Polizeistreifen aus dem Weg zu gehen, die die Sperrzone sichern sollten. Das Gebiet war viel zu groß, um es vollständig abzuriegeln, und es gab überall Versteckmöglichkeiten. So waren sie bald in die evakuierten Außenbezirke der Ruinenstadt gelangt.
Die Häuser um sie herum waren verlassen, sahen aber fast unbeschädigt aus. Lediglich einige Fensterscheiben waren zerborsten und das eine oder andere Dach beschädigt. Ein Baum lag entwurzelt quer über der Straße. Die Szenerie hätte die Folge eines schweren Sturms sein können, wäre da nicht der schwarze Staub gewesen, der alles bedeckte.
Je näher sie aber dem ehemaligen Zentrum kamen, desto schwerer wurden die Schäden. Zunächst sahen sie vereinzelte Ruinen von Wohnhäusern, die in Brand geraten waren. Immer häufiger fanden sich Baustellen, wo Häuser abgerissen worden waren und verseuchte Erde abgetragen wurde. Auf einer davon arbeiteten Menschen mit schweren Baumaschinen. Sie trugen orangefarbene Schutzkleidung und Atemschutzmasken.
Chris warf Leon einen besorgten Blick zu. Trotz der Augusthitze trug sie einen Regenmantel und Gummistiefel und hatte sich ein Seidentuch vors Gesicht gebunden. Leon war ähnlich ausstaffiert, aber unsicher, wie viel das gegen |281| den allgegenwärtigen radioaktiven Staub nützte. Er zuckte mit den Schultern und bedeutete ihr, dicht bei ihm zu bleiben. Im Sichtschatten der Gebäude und Büsche umgingen sie die Baustelle.
Leon war überrascht, wie grün die Stadt wirkte. Zwar stand kein Baum mehr aufrecht, doch überall sprossen Gräser, Büsche und Sträucher. Einige schienen ungewöhnlich große Blätter zu haben. Es war, als wolle die Natur verlorenes Terrain zurückerobern, nachdem die Menschen diesen Ort verlassen hatten. Die Luft war erfüllt vom Summen zahlloser Bienen, Fliegen und Mücken. Spinnen krochen auf den Mauern der verlassenen Gebäude herum oder saßen geduldig in ihren großen Netzen. Leon hatte in einem Biologiebuch gelesen, dass Insekten und Spinnentiere sehr widerstandsfähig gegen radioaktive Strahlung waren. Nach einem globalen Atomkrieg wären wohl sie es, die die Herrschaft über die Erde antreten würden.
Die meisten Häuser in diesem Teil der Stadt standen noch, doch die Wucht der Explosion hatte ihre Spuren hinterlassen. Dächer waren fortgerissen, Balkone hingen schief an den Fassaden, das Mauerwerk wies breite Risse auf. Da, wo Trümmerteile gegen die Häuserwände geprallt waren, gab es gewaltige Löcher und eingedrücktes Mauerwerk, als seien die Gebäude von schwerer Artillerie beschossen worden.
Das Haus, in dem Leon gewohnt hatte, war nur noch ein gewaltiger, von Unkraut überwucherter Schutthaufen. Vermutlich war es durch die Druckwelle so stark beschädigt worden, dass man es hatte abreißen müssen. Er starrte eine Weile auf die Trümmer, war jedoch unfähig, dieses Bild mit der Erinnerung an sein Zuhause in Einklang zu bringen. Seine Eltern waren in der Innenstadt gewesen, als es passierte. Ihre Leichen waren nie gefunden worden. Dieser Ort hatte keine Bedeutung mehr für ihn.
|282| »Lass uns gehen«, sagte er mit tonloser Stimme. Sie setzten ihren Marsch durch die Stadt fort.
Kurz nach der Explosion mussten die Straßen voller Autowracks gewesen sein, die jedoch inzwischen entfernt worden waren, um den Weg für Bagger und LKWs frei zu machen. Auf dem Flachdach eines dreistöckigen Wohnhauses lag ein Wagen auf der Seite. Es war nicht mehr zu erkennen, um welche Marke es sich handelte und welche Farbe er
Weitere Kostenlose Bücher