Schwarzer Regen
einfältig
aussehende Frau mit. Sie zog sich mit meiner Anfrage in die inneren Regionen
zurück, kam dann wieder und führte mich in den Raum, in dem der alte Priester
lag. In einem Zimmer alten Stils, doppelt so groß wie in einem gewöhnlichen
Haus, ruhte er unter einem kleinen weißen Kindermoskitonetz. Die dünne
Bettdecke war fast flach, nur eine geringe Wölbung verriet den Körper darunter.
Die Schiebetüren standen offen, dahinter konnte ich Kürbisranken sehen, die
sich in einem typischen Tempelgarten mit Felsbrocken, Moos und Sand
ausbreiteten.
Der alte Priester hörte zu, als ich mein
Anliegen vortrug, und wandte sich dann an die Frau, die sich auf dem Tatami
neben seinem Bett niedergelassen hatte. „Sei doch bitte so gut, meine Liebe“,
sagte er, „und bring mir die .Dreifache Zuflucht’ und — wart mal — die ,Weihung’ und die ‚Hymne auf Buddha’. Und auch die
,Amida-Sutra’ und die .Schrift über die Vergänglichkeit’.“ Seine Stimme war
dünn und kratzig. Die Frau erhob sich und holte die Schriften aus dem
Nebenraum. „So, ja“, meinte er dann, „gib sie doch bitte dem Herrn hier.“ Er
sprach nur mit schwacher Stimme, doch die Frau kam seinen Aufforderungen
bereitwilligst nach.
Die fünf Schriften waren von Holzstöcken
gedruckt. Als ich anfing, sie abzuschreiben, ließ sich der alte Priester von
der Frau aufhelfen und kniete sich in korrekter Haltung — auf den Fersen
sitzend, die Hände im Schoß zusammengelegt — auf den Tatami neben mich. „Es tut
mir außerordentlich leid, daß Sie sich diese Mühe machen müssen“, sagte er mit
äußerster Höflichkeit. Ich bemerkte, wie gebrechlich seine Knie wirkten, auf
denen die Hände ruhten. „Man hat mir berichtet, daß Hiroshima ausgelöscht ist.
Schrecklich. Wirklich — wie soll man sagen — beklagenswert...“ Seine Stimme war
jetzt etwas sicherer. Ich hielt im Schreiben inne und schaute in den Garten
hinaus, doch beim Anblick der fröhlichen roten Kürbisse kamen mir unversehens
die Tränen.
An vielen Stellen verstand ich den Sinn der
Schriften nicht, sie hatten aber wenigstens Intonationszeichen, die beim
Vorlesen halfen. Die „Dreifache Zuflucht“ und die „Weihung“ waren in
geschliffenen chinesischen Wendungen abgefaßt und handelten von Buddha, vom
Ewigen Gesetz, von der Erlösung aller Wesen und den Weltaltern. Die „Schrift über
die Vergänglichkeit“ war in flüssigerem, einfacherem Japanisch gehalten, in
einer Sprache, deren Schönheit zu Herzen ging.
„In unserer Sekte“, sagte der alte Priester,
„wird bei Trauerfeiern zuerst die ‚Dreifache Zuflucht’ gelesen, dann die ‚Weihung’
und danach die ‚Hymne auf Buddha’, in der Reihenfolge. Darauf folgt die ‚Amida-Sutra’,
während sie rezitiert wird, opfern die Anwesenden Weihrauch. Schließlich kommt
die ‚Schrift über die Vergänglichkeit’, und dabei wendet man sich der Gemeinde
zu und nicht dem Dahingegangenen.“ Um mir zu zeigen, wie die heiligen Schriften
vorzutragen sind, rezitierte er die „Dreifache Zuflucht“ und die „Weihung“,
wobei seine Stimme unerwartet kräftig klang. Beim Zuhören machte ich mir hier
und da in meiner Abschrift Notizen zur korrekten Aussprache. Dann las er mir
aus der „Predigt über die Vergänglichkeit“ vor. In der völligen Stille des
Raumes war nur das Psalmodieren seiner Stimme zu vernehmen.
Mir fehlte jegliche Voraussetzung, um die Seelen
der Verstorbenen auf ihrem Weg ins Jenseits zu geleiten, aber ich sagte mir,
meine Lesung der Sutras würde wenigstens ein Gebet für ihre Erlösung sein, und
ich nahm mir vor, sie mit aller Inbrunst zu sprechen. Es lag wohl an der
friedvollen Stimmung im Raum, daß mir so zumute war.
Gleich auf dem Rückweg übte ich mich im
Vortragen der Sutras. Ich überlas immer wieder die Texte in meinem Notizheft,
um sie mir rasch einzuprägen. In der Fabrik war der Sarg schon bereit. An die
dreißig Leute hatten sich im Vorraum vom Schlafsaal der Angestellten
versammelt. Der Sarg stand auf einem niedrigen Podium, das sonst für
Veranstaltungen und Reden benutzt wurde. In einem Spielzeugeimer, den jemand
gefunden und mit Asche gefüllt hatte, brannte Weihrauch. Auch ein Zweig vom
heiligen Baum, der zum Shinto-Ritus gehört, steckte in einer großen
Sake-Flasche. Der Geschäftsführer kam im Anzug. Bevor ich die Gebete sprach,
zog ich das Jackett an, das mir Fujiki, einer der Angestellten, geborgt hatte.
Als ich mich vor dem Sarg niederließ, spannten sich meine Muskeln
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