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Schwarzer Schmetterling

Schwarzer Schmetterling

Titel: Schwarzer Schmetterling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernard Minier
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anderen schweren Erkrankungen, ist Gelegenheitslügner, der eine Astrologin zu Rate zieht, seine Frau betrügt, ein Kettenraucher, der zu viele Martini trinkt; der zweite ein Fettleibiger, der bereits drei Wahlen verloren hat, an Depressionen leidet, zwei Herzinfarkte überlebt hat, Zigaretten raucht und sich abends mit Champagner, Portwein, Cognac und Whisky volllaufen lässt, ehe er zwei Schlaftabletten einwirft; der dritte schließlich ein dekorierter Kriegsheld, der die Frauen achtet, die Tiere liebt, nur hin und wieder ein Bier trinkt, nicht raucht. Für wen würdest du dich entscheiden?«
    Servaz lächelte.
    »Ich nehme an, Sie erwarten, dass ich antworte: den dritten?«
    »Na bravo, du hast Roosevelt und Churchill ausgesiebt und dich für Adolf Hitler entschieden. Du siehst, die Dinge sind niemals so, wie sie zu sein scheinen.«
    Servaz lachte laut auf. Der Richter gefiel ihm wirklich. Ein Mann mit sicherem Gespür, dessen Gedanken so glasklar waren wie der Wildbach vor seiner Mühle.
    »Das ist übrigens das Problem mit den Medien heutzutage«, fuhr der Ruheständler fort. »Sie stürzen sich auf belanglose Details und bauschen sie auf. Das Ergebnis: Wenn es damals schon die heutigen Medien gegeben hätte, wären Roosevelt und Churchill vermutlich nicht gewählt worden. Verlass dich auf deine Intuition, Martin. Nicht auf den äußeren Anschein.«
    »Die Selbstmörder«, sagte Servaz noch einmal.
    »Sag ich gleich was dazu.«
    Der Richter schenkte sich einen zweiten Armagnac ein – dann hob er den Kopf und sah Servaz streng an.
    »Ich habe in dieser Sache die Ermittlungen geleitet. Die schwierigsten in meiner ganzen Laufbahn. Alles geschah innerhalb eines Jahres. Zwischen Mai 1993 und Juli 1994 , um genau zu sein. Sieben Selbstmorde. Jugendliche zwischen fünfzehn und achtzehn . Und ich erinnere mich daran, als wäre es gestern gewesen.«
    Servaz hielt den Atem an. Die Stimme des Richters hatte sich verändert. Sie war jetzt von einer unendlichen Härte und Traurigkeit erfüllt.
    »Das erste Mädchen, das sich das Leben nahm, stammte aus einem Nachbarort, Alice Ferrand, sechzehneinhalb Jahre. Eine hervorragende, hochintelligente Schülerin aus gebildetem Elternhaus: der Vater Französischlehrer am Gymnasium, die Mutter Grundschullehrerin. Alice galt als unauffälliges Kind. Sie hatte gleichaltrige Freundinnen. Sie liebte Zeichnen und Musik. Sie wurde von allen hochgeschätzt. Am Morgen des 2 . Mai 1993 fand man sie erhängt in einer nahe gelegenen Scheune.«
    Erhängt …
Servaz schnürte sich die Kehle zusammen, aber er wurde hellhörig.
    »Ich weiß, woran du denkst«, sagte Saint-Cyr, als er seinem Blick begegnete. »Aber ich kann dir versichern, dass sie sich selbst erhängt hat, daran besteht nicht der geringste Zweifel. Der Rechtsmediziner war sich da ganz sicher. Es war Delmas, du kennst ihn, ein fähiger Typ. Und in der Schreibtischschublade der Kleinen wurde ein einziges Indiz gefunden: eine von ihr angefertigte Skizze der Scheune, auf der sie den Strick zwischen Balken und Schlinge genau so lang zeichnete, dass ihre kleinen Füße nicht den Boden berührten.«
    Den letzten Satz äußerte der Richter mit gebrochener Stimme. Servaz sah, dass er den Tränen nahe war.
    »Das war eine wirklich herzzerreißende Geschichte. Ein so bezauberndes Mädchen. Als sich fünf Wochen später, am 7.  Juni, ein siebzehnjähriger Junge umbrachte, sah man darin lediglich ein zufälliges Zusammentreffen. Erst beim dritten Suizid, am Ende desselben Monats, wurden wir hellhörig.« – Er trank seinen Armagnac aus und stellte das leere Glas auf den kleinen runden Tisch. »Auch an ihn erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. In diesem Sommer hatten wir im Juni und Juli eine Gluthitze, herrliches Wetter, sehr warme Abende, die nicht aufhörten. Wir blieben lange in den Gärten, am Fluss oder auf Caféterrassen, um ein wenig Abkühlung zu finden. In den Wohnungen war es zu heiß. Damals hatte man noch keine Klimaanlagen – und auch keine Handys. An diesem Abend des 29.  Juni war ich mit dem Vorgänger von Cathy d’Humières und einem weiteren Staatsanwalt in einem Café. Der Wirt kam zu mir. Er hat auf das Telefon auf der Theke gezeigt. Ein Anruf für mich. Von der Gendarmerie. ›Es wurde noch einer gefunden‹, haben sie gesagt. Ich wusste sofort, worum es ging.«
    Servaz spürte, wie ihm immer kälter wurde.
    »Auch dieser hatte sich erhängt, wie die beiden anderen. In einer verfallenen Scheune, hinter

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