Schwarzer Schmetterling
alles drin. Die Briefe, die Kopie der Ermittlungsakte, Gutachten … Bitte mach ihn nicht hier auf.«
Servaz nickte langsam und betrachtete den Karton.
»Gab es sonst noch Gemeinsamkeiten zwischen ihnen? Abgesehen von den Suiziden und den Briefen? Gehörten sie zu einer Bande, einer Gruppe?«
»Du kannst dir denken, dass wir in alle Richtungen gründlich recherchiert haben, wir haben alle Hebel in Bewegung gesetzt. Vergeblich. Die Jüngste war vierzehneinhalb, der Älteste achtzehn. Sie gingen nicht auf dieselbe Schule; sie interessierten sich nicht für das Gleiche, und sie hatten nicht die gleichen Hobbys. Einige kannten sich gut, andere kaum. Ihre einzige Gemeinsamkeit war allenfalls ihre gesellschaftliche Stellung: Sie stammten alle aus der Unter- oder der Mittelschicht. Abkömmlinge der reichen Bourgeoisie von Saint-Martin waren nicht darunter.«
Servaz spürte, wie frustriert der Richter war. Er ahnte, dass er Hunderte von Stunden damit verbracht hatte, der kleinsten Spur, dem kleinsten Indiz nachzugehen, zu versuchen, das Unverständliche zu verstehen. Diese ungeklärte Selbstmordserie hatte im Leben von Gabriel Saint-Cyr eine sehr große Bedeutung. Vielleicht war sie sogar die Ursache seiner gesundheitlichen Probleme und seiner vorzeitigen Verrentung. Er wusste, dass der Richter diese Fragen mit ins Grab nehmen würde. Er würde sie sich immer wieder stellen.
»Gibt es eine Hypothese, die du in Erwägung gezogen, aber nicht weiterverfolgt hast?« Plötzlich verfiel Servaz selbst ins »du«, als hätte sie das Gefühl, das durch diese Erzählung geweckt worden war, einander angenähert. »Eine Hypothese, die du aus Mangel an Beweisen fallengelassen hast?«
Der Richter schien zu zögern.
»Wir haben natürlich sehr viele Hypothesen in Betracht gezogen«, antwortete er mit Bedacht. »Aber keine hat sich auch nur ansatzweise bestätigt. Das ist das größte Rätsel meiner gesamten Laufbahn. Ich vermute, alle Ermittlungsrichter und alle Ermittler haben so eines. Ein ungeklärter Fall, der sie bis ans Ende ihrer Tage verfolgen wird. Ein Fall, der für immer einen bitteren Geschmack der Frustration bei ihnen zurücklässt – und der all ihre Erfolge überschattet.«
»Das stimmt«, pflichtete Servaz bei. »Jeder hat sein ungelöstes Rätsel. Und in solchen Fällen hatten wir immer eine Spur, die wichtiger war als die anderen. Eine Fährte, eine vage Idee, die im Sande verlaufen ist, von der wir aber noch immer das Gefühl haben, dass sie vielleicht irgendwohin hätte führen können, wenn wir nur ein wenig Glück gehabt hätten oder wenn die Ermittlungen anders verlaufen wären. Hast du wirklich nichts in dieser Art? Etwas, was sich nicht in den Akten findet?«
Der Richter holte tief Luft, er hatte die Augen fest auf Servaz gerichtet. Wieder schien er zu zögern. Er zog seine buschigen Brauen hoch, dann sagte er:
»Doch, es gab eine Hypothese, die mir am plausibelsten erschien. Aber diese Hypothese wurde durch keinerlei Erkenntnisse, keine Zeugenaussage gestützt. Also ist sie da drin geblieben«, fügte er hinzu und tippte mit dem Zeigefinger an den Kopf.
»Die Colonie des Isards«, sagte Saint-Cyr. »Du hast vielleicht schon davon gehört?«
Der Name kam Servaz irgendwie bekannt vor – es dauerte eine Weile, bis er sich erinnerte: die leerstehenden Gebäude und das verrostete Schild an der Straße, die zum Institut Wargnier führte. Er erinnerte sich wieder daran, was er beim Anblick dieses düsteren Ortes gedacht hatte.
»Wir sind auf dem Weg zum Institut daran vorbeigefahren. Sie ist geschlossen, oder?«
»Genau«, sagte der Richter. »Aber diese Kolonie war mehrere Jahrzehnte lang in Betrieb. Sie hat nach dem Krieg geöffnet, und bis Ende der neunziger Jahre kamen Kinder dorthin.«
Er hielt kurz inne.
»Die Colonie des Isards war für die Kinder aus Saint-Martin und Umgebung gedacht, die nicht die Mittel hatten, um sich richtige Sommerferien zu leisten. Sie wurde teilweise von der Stadt verwaltet – mit einem Direktor an der Spitze –, und sie nahm Kinder zwischen acht und fünfzehn Jahren auf. Eine Art Sommerferienlager mit den üblichen Freizeitaktivitäten: Bergwandern, Ballspiele, Sport, Baden in den Gewässern der Umgebung …«
Der Richter verzog leicht das Gesicht, als hätte er beginnende Zahnschmerzen.
»Was mich stutzig machte, war die Tatsache, dass fünf der Selbstmörder schon in der Kolonie gewesen waren. Und das innerhalb der beiden Jahre, die ihrem Selbstmord
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