Schwarzer Schmetterling
ein. Erschöpft. Körperlich mitgenommen. Am Rand des Zusammenbruchs. Zuerst dieser Junge namens Clément und jetzt das …
Es hatte aufgehört zu schneien. Die Temperatur war sogar ein wenig gestiegen, und doch ballten sich am Himmel über der Stadt die Wolken, und an den Berghängen verschwanden die Silhouetten der Tannen, kaum waren sie aus der Dunkelheit aufgetaucht, schon wieder im Nebel. Die Dächer und Straßen schimmerten silbern, und Servaz spürte die ersten Regentropfen auf seinem Gesicht. Sie durchsiebten den Schnee, der sich in einer Ecke des Balkons angesammelt hatte, und er ging zurück ins Zimmer. Er hatte keinen Hunger, aber er musste wenigstens einen heißen Kaffee trinken. Er stieg hinunter und ging in die große Jugendstil-Glasveranda hoch über der regenverhangenen Stadt. Die Kellnerin brachte ihm frisch geschnittenes Brot, einen Kaffee, ein Glas Orangensaft, Butter und Marmeladedöschen. Zu seiner großen Überraschung schlang er alles hinunter. Essen hatte etwas von einem Exorzismus; essen bedeutete, dass er am Leben war; dass ihn die Hölle, die in den Seiten dieser Notizbücher enthalten war, nicht verschlang. Oder zumindest, dass er sie noch einen Moment auf Distanz halten konnte.
Ich heiße Alice, ich bin fünfzehn. Ich weiß nicht, was ich mit diesen Seiten tun werde, und auch nicht, ob sie eines Tages jemand lesen wird. Vielleicht werde ich sie zerreißen oder verbrennen, sobald ich sie vollgeschrieben habe. Vielleicht auch nicht. Aber wenn ich jetzt nicht schreibe, werde ich, verdammt noch mal, verrückt. Ich bin vergewaltigt worden. Nicht von einem Mistkerl, nein – von
mehreren
gemeinen Scheißkerlen. In einer Sommernacht. Vergewaltigt …
Das Tagebuch von Alice war mit das Unerträglichste, was er je gelesen hatte. Eine grauenhafte Lektüre … Das Tagebuch einer Heranwachsenden, das aus Zeichnungen, Gedichten und sibyllinischen Sätzen bestand. Im Laufe der Nacht, in der der Morgen mit der Langsamkeit eines scheuen Tieres näher kam, hatte er kurz davor gestanden, es in den Papierkorb zu werfen. Dabei enthielten diese Notizbücher kaum konkrete Informationen – dafür jede Menge Anspielungen und Andeutungen. Einige Tatsachen kristallisierten sich jedoch deutlich heraus. Im Sommer 1992 hatte sich Alice Ferrand in dem mittlerweile geschlossenen Ferienlager Colonie des Isards aufgehalten. Ebendas, an dem Servaz auf dem Weg zum Institut Wargnier vorbeigefahren war, das, von dem Saint-Cyr gesprochen hatte, das, dessen Foto an eine Wand ihres Zimmers gepinnt war. Früher hatten Kinder aus Saint-Martin und den Nachbartälern, deren Eltern es sich nicht leisten konnten, mit ihnen Urlaub zu machen, ihre Sommerferien in der Colonie des Isards verbracht. Das war eine echte lokale Tradition. Da in diesem Jahr einige ihrer besten Freundinnen ins Ferienlager gingen, hatte Alice ihre Eltern um die Erlaubnis gebeten, mitzufahren. Nach anfänglichem Zögern hatten sie es erlaubt. Alice wies darauf hin, dass sie diese Entscheidung nicht allein ihr zuliebe getroffen hatten, sondern auch deshalb, weil sie letztlich mit ihren eigenen Idealen von Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit in Einklang stand. Sie fügte hinzu, dass sie an diesem Tag »die tragischste Entscheidung ihres Lebens« getroffen hatten. Alice machte weder ihren Eltern noch sich selbst Vorwürfe. Vorwürfe machte sie den » SCHWEINEN «, den » DRECKSKERLEN « und den » NAZIS « (diese Wörter waren mit roter Tinte in Großbuchstaben geschrieben), die ihr Leben ruiniert hatten. Am liebsten hätte sie sie »kastriert, entmannt, mit einem verrosteten Messer den Schwanz abgeschnitten und sie gezwungen, ihn zu fressen – um sie anschließend zu töten«.
Mit einem Mal glaubte er, mehr als eine Gemeinsamkeit zwischen dem Jungen namens Clément und Alice zu entdecken: Beide waren intelligent und für ihr Alter sehr weit. Beide legten auch eine unglaubliche verbale Gewalttätigkeit an den Tag.
Und eine körperliche auch,
sagte sich Servaz. Nur dass der eine sie gegen einen Obdachlosen gerichtet hatte, während die andere sie gegen sich gerichtet hatte.
Zum Glück für Servaz schilderte Alices Tagebuch nicht im Einzelnen, was sie durchgemacht hatte. Es war kein Tagebuch im eigentlichen Sinne: Es erzählte nicht die jeweils tagesaktuellen Erfahrungen nach. Es war eher eine Anklageschrift. Ein Schmerzensschrei. Doch da Alice ein intelligentes, scharfsinniges Mädchen war, waren ihre Ausführungen trotzdem schrecklich. Die
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